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663âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
durch die Lippen gezogenen Rings ; aber wie hinreiĂend werden sie, wenn man sie
samt den Eigenschaften sieht, die sie ihrem Besitzer leihen ! [âŠ] Man stelle sich vor,
die unsichtbare GĂŒte und Auserlesenheit eines Menschen wĂŒrde plötzlich als ein
dottrig goldener, vollmondgroĂ schwebender Heiligenschein hinter seinem Schei-
telwirbel auftauchen, wie es auf frommen, alten Bildern zu sehen ist, wÀhrend er am
Korso spazierengeht oder bei einem Tee soeben Sandwiches auf seinen Teller legt :
es wĂ€re ohne Zweifel eines der ungeheuersten und erschĂŒtterndsten Erlebnisse ; und
solche Kraft, das Unsichtbare, ja sogar das gar nicht Vorhandene sichtbar zu machen,
beweist ein gut gemachtes KleidungsstĂŒck alle Tage ! (MoE 526)
Unbewusst huldigt Bonadea der charakterbildenden, ja charaktererzeugenden
âKraftâ der Kleidung ohne jede EinschrĂ€nkung, sie kann sich eine andere als
affirmative Umgangsweise damit gar nicht vorstellen. Generell hat sie einen
gewaltigen Respekt vor der LegitimitÀt und Macht des jeweils geltenden Fak-
tischen, der sie nichts entgegenzusetzen weiĂ :
Sie nahm den Zwang der Welt rein in sich auf, und die Zeiten, wo man die Besuchs-
karten an einer Ecke umbog oder seinen Freunden NeujahrswĂŒnsche ins Haus
schickte oder auf dem Ball die Handschuhe abstreifte, lagen in den Zeiten, wo man
das nicht tat, so weit hinter ihr wie fĂŒr jeden andern Zeitgenossen die Zeit vor hun-
dert Jahren, nĂ€mlich ganz und gar im Unvorstellbaren, Unmöglichen und Ăberhol-
ten. (MoE 525)
WĂ€hrend Ulrich gleichsam aus Prinzip nicht bereit ist, âUnmöglichesâ ĂŒberhaupt
zu statuieren, hÀlt sich Bonadea ohne jeden Vorbehalt an den jeweils herrschen-
den âZwang der Weltâ bzw. an das jeweils ânaheliegende GefĂŒhlâ (MoE 120).
Dementsprechend hat sie âdas feste Vertrauen in eine öffentliche Ordnung, die
so gerecht sei, daĂ man, ohne an sie denken zu mĂŒssen, seinen privaten An-
gelegenheiten nachgehen könneâ (MoE 120). Die gewaltige habituelle Diffe-
renz zwischen den beiden manifestiert sich in einem völlig unterschiedlichen
VerhĂ€ltnis zur Sprache und zu den ĂŒberkommenen sozialen Vorstellungen und
Verhaltensweisen, ja zur gesamten herrschenden Doxa der erzÀhlten Zeit :
Ihr Lieblingsbegriff war âhochanstĂ€ndigâ ; sie wandte ihn auf Menschen, Dienstboten,
GeschĂ€fte und GefĂŒhle an, wenn sie etwas Gutes von ihnen sagen wollte. Sie war
imstande, âdas Wahre, Gute und Schöneâ so oft und natĂŒrlich auszusprechen, wie
ein anderer Donnerstag sagt. Was ihr IdeenbedĂŒrfnis am tiefsten befriedigte, war die
Vorstellung einer stillen, idealen LebensfĂŒhrung in einem Kreis, den Gatte und Kin-
der bilden, wĂ€hrend tief darunter das dunkle Reich âFĂŒhre mich nicht in Versuchungâ
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208