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666 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
bahndieb ist, und diese stille, stattliche Frau wurde, sobald sie niemand in Armen
hielt, bedrĂŒckt von der Selbstverachtung, die durch die LĂŒgen und Entehrungen
hervorgerufen wurde, denen sie sich aussetzte, um in Armen gehalten zu werden.
Wurden ihre Sinne erregt, so war sie melancholisch und gut, ja sie gewann in ihrer
Mischung von Begeisterung und TrĂ€nen, von brutaler NatĂŒrlichkeit und unweigerlich
kommender Reue, in dem AusreiĂen ihrer Manie vor der schon drohend wartenden
Depression einen Reiz, der Àhnlich aufregend war wie das ununterbrochene Wirbeln
einer dunkel umflorten Trommel. (MoE 42)
Die zuletzt zitierten Worte des ErzÀhlers erfolgen allerdings ganz offensicht-
lich aus mĂ€nnlicher Optik, welche gegenĂŒber Bonadea in erster Linie von Ul-
rich vertreten wird. Diese Sichtweise entbehrt nicht eines problematischen
Beigeschmacks, weil sie psychopathologische Erscheinungen â und damit
Zeugnisse menschlichen Leidens â allein unter der Perspektive des Ă€sthetisch
Reizvollen wahrnimmt. Eine gewisse Lizenz zu solchen Ăsthetisierungen
wird man einem Roman, der ja kein medizinisch-ethisches Dokument, son-
dern ein Àsthetisches Artefakt darstellt, aber wohl nicht generell absprechen
wollen, zumal die erzÀhlerische Ironie ein Syndrom mit sittengeschichtlicher
Signifikanz offenlegt, aus dem selbst die an den VerhÀltnissen leidende Frau
zumindest kurzfristig einen gewissen erotischen Mehrwert bezieht :
Es blieb kaum etwas anderes ĂŒbrig, um ihre Klagen schweigen zu machen, als sie
schleunigst aus dem Zustand der Depression in den der Manie zu versetzen. Dann
sprach sie dem, der das tat und ihre SchwĂ€che miĂbrauchte, jede vornehme Gesin-
nung ab, aber ihr Leiden legte ihr einen Schleier nasser ZĂ€rtlichkeit ĂŒber die Augen,
wenn sie, wie sie das mit wissenschaftlichem Abstand auszudrĂŒcken pflegte, zu die-
sem Manne âinklinierteâ. (MoE 43 ; vgl. MoE 2022)
Doch selbst wĂ€hrend ihrer âInklinationenâ zum anderen Geschlecht kann sie
sich von ihren hehren idealischen Maximen nicht befreien :
[D]ie guten VorsÀtze und den besten Willen zur AnstÀndigkeit verlor sie auch wÀh-
rend solcher ZustĂ€nde keinen Augenblick ; sie standen dann drauĂen und warteten
und hatten zu dieser von den Begierden verÀnderten Welt bloà kein Wort zu sagen.
Wenn Bonadeas Vernunft wiederkehrte, war das ihre gröĂte Qual. Die BewuĂtseins-
verĂ€nderung durch den Geschlechtsrausch, ĂŒber die andere Menschen als etwas Na-
tĂŒrliches hinwegsehen, nahm bei ihr durch die Tiefe und Plötzlichkeit des Rausches
wie auch der Reue eine StÀrke an, die sie beÀngstigte, sobald sie wieder in den Frie-
denskreis der Familie zurĂŒckgekehrt war. Sie kam sich dann wie eine Wahnsinnige vor.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208