Page - 710 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 710 -
Text of the Page - 710 -
710 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Statt sich der âmĂ€nnlichen Herrschaftâ auf die eine oder andere Art zu wider-
setzen, ist Diotima vielmehr um eine möglichst vollstÀndige Anverwandlung
der in ihr geltenden Regeln bemĂŒht, so dass sie selbst bestmöglich von ihr
profitieren kann ; auf diese Weise trĂ€gt sie aktiv dazu bei, die ĂŒberkommene
Geschlechterordnung zu reproduzieren. Ihr Kampf um eine konzessive Inte-
gration in die Gesellschaft offenbart sich etwa in ihrer spezifischen Form der
âBeziehungsarbeitâ im Rahmen der Parallelaktion : Versucht man, die in moder-
nen Gesellschaften ĂŒbliche âethnozentrische Definition der Arbeitâ zu vermei-
den, die âallein die produktiven TĂ€tigkeitenâ umfasst, und zĂ€hlt man wie in âder
vorkapitalistischen Definition der âArbeitââ undifferenziert âalle unmittelbar
oder mittelbar auf die Reproduktion des sozialen und des symbolischen Kapi-
tals zielenden Praktikenâ zu ihr (wie das im âGroĂteil der vorkapitalistischen
Gesellschaften, aber auch beim Adel des Ancien régime und den priviligierten
Klassen der kapitalistischen Gesellschaftenâ geschieht)1107, dann muss man Di-
otima eine enorme Leistung konzedieren. Angesichts der schon um und nach
1900 herrschenden âmodernenâ Kriterien, die eine restriktivere Definition der
(Erwerbs-)Arbeit etablierten, nimmt es aber nicht Wunder, dass diese Leis-
tung von Diotimas Gatten Tuzzi kaum anerkannt wird â obwohl er sie an den
Abenden regelmĂ€Ăig, ja zunehmend in einem Zustand der Erschöpfung antrifft
(vgl. etwa MoE 227 u. 814). Abgesehen davon befindet sich Diotima trotz ihrer
prinzipiellen Konzilianz strukturell in einer recht widersprĂŒchlichen Position.
Bourdieu zufolge âbringt der Zugang zu gleich welcher Macht die Frauen in
eine double-bind-Situation : Handeln sie wie MĂ€nner, drohen sie die obligatori-
schen Attribute der âWeiblichkeitâ zu verlieren und stellen das Naturrecht der
MĂ€nner auf die Machtposition in Frage, handeln sie hingegen wie Frauen, er-
scheinen sie als unfĂ€hig und [âŠ] untauglich. Diese widersprĂŒchlichen Erwar-
tungen entsprechen genau denjenigen, denen sie als auf dem Markt der sym-
bolischen GĂŒter angebotene Objekte strukturell ausgesetzt sind.â1108 Diotima
vermag diesem Dilemma letztlich nicht zu entkommen.
Eine ganz andere Strategie des Umgangs mit der strukturellen Problema-
tik von Frauen unter den Bedingungen âmĂ€nnlicher Herrschaftâ verfolgt da-
gegen Agathe : Vorderhand fĂŒgt sie sich den Vorstellungen und PlĂ€nen des
allmĂ€chtig scheinenden Vaters, indem sie etwa die von diesem gewĂŒnschte
Ehe mit Hagauer ohne innere Anteilnahme widerspruchslos eingeht. Durch
diese oberflÀchliche Akzeptanz des vÀterlichen Wunsches bestÀtigt sie dessen
âSchicksalsmachtâ, die Bourdieu folgendermaĂen beschrieben hat :
1107 Ebd., S. 87.
1108 Ebd., S. 120.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208