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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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727„Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ Der Ehrgeiz der SalonniĂšre zielt also ganz romantisch ins Grenzenlose. Musils ErzĂ€hler kommentiert ihre unerfĂŒllbare Erwartung freilich wiederum spöt- tisch, nach dem bewĂ€hrten Muster einer Komik der Herabstimmung : „Es ließ sich nicht leugnen, daß das erste, was sie dabei empfand, eine unermeßliche, augenblicklich sich öffnende Leere war.“ (MoE 107) Dieser sarkastische Um- gang mit Diotimas großen Idealen beruht auf einer tiefen Skepsis gegen deren verborgene Bedingungen und Implikationen : „Ideale haben merkwĂŒrdige Ei- genschaften und darunter auch die, daß sie in ihren Widersinn umschlagen, wenn man sie genau befolgen will.“ (MoE 229) Instinktiv ist Diotima des- halb auch in ihrem Idealismus ungenau. Musil selbst hat sich in seinen Essays und essayistischen EntwĂŒrfen zeitlebens kritisch mit dem widersprĂŒchlichen PhĂ€nomen des Idealismus auseinandergesetzt, den er bereits frĂŒh als Resultat eines kontinuierlichen zivilisatorischen Verwesungs- und Versteinerungspro- zesses deutete.1156 Dementsprechend warnt er in einem poetologischen Frag- ment aus den frĂŒhen zwanziger Jahren, das mit dem Arbeitstitel Der Dichter und diese Zeit ĂŒberschrieben ist, der ungenau entstandene und verfolgte „Idea- lismus“ sei „eines der gefĂ€hrlichsten Dinge“ in der modernen Welt : Jener Idealismus ohne Klarheit, der ein diffuses BewegungsbedĂŒrfnis der Seele ist und mit Namen gereizt wird : Göthe, Shakespeare, Vaterland, Volksgesundheit usw. Eine vernĂŒnftigere Zensur mĂŒĂŸte nicht die unmoralischen, sondern die moralischen Schriften einer strengen Aufsicht unterwerfen. Von seinen Idealen zu sprechen ist ein Vorrecht, das man nicht jeder Mutter von 5 Kindern einrĂ€umen darf. (GW 8, 1350 ; M IV/1/1) 1156 Vgl. dazu schon den frĂŒhen Essay Erinnerung an eine Mode (1912) : „Ideale sind Verwesungs- produkte ; in ihrer irdischen Verkörperung durch das Viele, was hinzukommen mußte, um sie zur Wirklichkeit zu verdichten, von allem andern Gemeinen nicht unterscheidbar, werden sie erst durch einen seelischen Zerfalls- und fast astral nebenherlaufenden Verwitterungsprozeß SehnsĂŒchte.“ (GW 8, 983) Genauer argumentiert dann der Spengler-Essay Geist und Erfah- rung (1921) : Demnach „sind alle Kulturen in verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig kleinen RĂ€umen und Gesell- schaften entstanden und haben sich von dort ausgebreitet. Darin liegt eine VerdĂŒnnungs- und Erschöpfungstendenz ; die gleiche liegt in der zeitlichen Wirkung durch Generationen. Ideen (Nicht-RatioĂŻdes) lassen sich nicht ĂŒbergeben wie Wissen ; sie erfordern gleichen seelischen Zustand und in Wirklichkeit ist höchstens Ă€hnliche seelische Disposition vorhanden : so sind sie stĂ€ndig der VerĂ€nderung unterworfen. Solang sie neu sind, werden sie dadurch vielleicht bereichert, spĂ€ter korrumpiert. Sie realisieren sich unterwegs allerdings in Einrichtungen und Lebensformen ; aber eine Idee verwirklichen heißt sie schon teilweise zerstören. Alle Verwirk- lichungen sind Zerrbilder und in höherem Alter werden sie immer leerer und unverstĂ€ndli- cher, denn Form und Idee haben ein ganz verschiedenes Lebenstempo ; so ragen immer die Formen einer Ă€lteren Schicht in die Ideen einer neueren herein und konkurrieren mit ihnen an Einfluß.“ (GW 8, 1055) Mehr dazu bei Fanelli : „Die Frau gestern und morgen“, S. 187 f.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
FWF-E-Book-Library
Title
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Subtitle
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Author
Norbert Christian Wolf
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2011
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78740-2
Size
15.5 x 23.0 cm
Pages
1224
Keywords
Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
Category
Geisteswissenschaften

Table of contents

  1. Vorbemerkung 9
  2. Einleitung 11
    1. 1. Vom Scheitern eines Großkritikers : Aporien der Literaturkritik 11
    2. 2. Die MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung 20
  3. TEIL I : GRUNDLEGUNG
    1. 1. Grundlagen der Untersuchung 43
      1. 1.1 Vorstellung der Methode : Bourdieus Sozioanalyse literarischer Texte 43
      2. 1.2 Methodologische EinwÀnde : Kritik der Sozioanalyse 58
    2. 2. Grundlagen der Poetik Musils 64
      1. 2.1 Der Mensch ohne Eigenschaften : ‚Gestaltlosigkeit‘ als ‚negative‘ Anthropologie 64
      2. 2.2 ‚Gestaltlosigkeit‘ und Romantext als Gesellschaftskonstruktion 80
    3. Gesellschaft im Roman 82
    4. Roman als Konstruktion 101
    5. Da capo : Angemessenheit und Vorgehensweise der Sozioanalyse 124
      1. 2.3 Medienkonkurrenz : Essayistisches vs. filmisches ErzÀhlen (Musil kontra Balåzs) 129
    6. 3. Grundbegriffe des Romankonzepts 165
      1. 3.1 Eigenschaftslosigkeit 165
      2. 3.2 Möglichkeitssinn und Essayismus 199
  4. TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
    1. 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
      1. 1.1 SelbstreferenzialitĂ€t und Außenreferenz : Das Eingangskapitel 261
      2. 1.2 Ein Land ohne Eigenschaften – Kakanien als Modell 282
      3. 1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften 300
    2. 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
      1. 2.1 MĂ€nner 334
    3. Erben und Enterbte 344
    4. Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
    5. Mann mit Eigenschaften 378
    6. Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
    7. Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
    8. Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
    9. Aufsteiger und Gebremste 482
    10. Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
    11. Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
    12. Terroristen und Propheten 548
    13. Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
    14. eingast, Faschist und Schwerenöter 584
    15. Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
    16. Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
      1. 2.2 Frauen 635
    17. Gefallene Geliebte 643
    18. Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
    19. Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
    20. Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
    21. Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
    22. Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
    23. Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
    24. Angepasste und Dissidentinnen 708
    25. Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
    26. Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
    27. 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
      1. 3.1 Gemischtgeschlechtliche Konstellationen : MĂ€nner und Frauen im 20. Jahrhundert 771
    28. Ehen in der Krise 781
    29. Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die „TrĂ€ger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
    30. Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
    31. Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
    32. Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
    33. Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
    34. Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
    35. Liebesversuche jenseits der Ehe 885
    36. Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
    37. Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
    38. Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
    39. Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
    40. 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
    41. Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
    42. Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
    43. Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
    44. Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
    45. Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
    46. BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
  5. BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
  6. TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
    1. 1. Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1099
      1. 1.1 ‚Negative‘ Anthropologie als literaturpolitischer Einsatz 1101
      2. 1.2 Poetik des Essayismus – Musils vielfacher Bruch 1130
    2. 2. Autor und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse 1152
  7. Literaturverzeichnis 1169
  8. Musil-Texte 1169
  9. Andere Quellen 1169
  10. Nachschlagewerke 1176
  11. Allgemeine Forschungsliteratur 1176
  12. SekundÀrliteratur zu Musil 1193
  13. Register 1208
    1. 1. Personen 1208
    2. 2. Literarische Figuren 1214
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