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727„Zeitfiguren“
1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“
Der Ehrgeiz der Salonnière zielt also ganz romantisch ins Grenzenlose. Musils
Erzähler kommentiert ihre unerfüllbare Erwartung freilich wiederum spöt-
tisch, nach dem bewährten Muster einer Komik der Herabstimmung : „Es ließ
sich nicht leugnen, daß das erste, was sie dabei empfand, eine unermeßliche,
augenblicklich sich öffnende Leere war.“ (MoE 107) Dieser sarkastische Um-
gang mit Diotimas großen Idealen beruht auf einer tiefen Skepsis gegen deren
verborgene Bedingungen und Implikationen : „Ideale haben merkwürdige Ei-
genschaften und darunter auch die, daß sie in ihren Widersinn umschlagen,
wenn man sie genau befolgen will.“ (MoE 229) Instinktiv ist Diotima des-
halb auch in ihrem Idealismus ungenau. Musil selbst hat sich in seinen Essays
und essayistischen Entwürfen zeitlebens kritisch mit dem widersprüchlichen
Phänomen des Idealismus auseinandergesetzt, den er bereits früh als Resultat
eines kontinuierlichen zivilisatorischen Verwesungs- und Versteinerungspro-
zesses deutete.1156 Dementsprechend warnt er in einem poetologischen Frag-
ment aus den frühen zwanziger Jahren, das mit dem Arbeitstitel Der Dichter
und diese Zeit überschrieben ist, der ungenau entstandene und verfolgte „Idea-
lismus“ sei „eines der gefährlichsten Dinge“ in der modernen Welt :
Jener Idealismus ohne Klarheit, der ein diffuses Bewegungsbedürfnis der Seele ist
und mit Namen gereizt wird : Göthe, Shakespeare, Vaterland, Volksgesundheit usw.
Eine vernünftigere Zensur müßte nicht die unmoralischen, sondern die moralischen
Schriften einer strengen Aufsicht unterwerfen. Von seinen Idealen zu sprechen ist ein
Vorrecht, das man nicht jeder Mutter von 5 Kindern einräumen darf. (GW 8, 1350 ;
M IV/1/1)
1156 Vgl. dazu schon den frühen Essay Erinnerung an eine Mode (1912) : „Ideale sind Verwesungs-
produkte ; in ihrer irdischen Verkörperung durch das Viele, was hinzukommen mußte, um sie
zur Wirklichkeit zu verdichten, von allem andern Gemeinen nicht unterscheidbar, werden sie
erst durch einen seelischen Zerfalls- und fast astral nebenherlaufenden Verwitterungsprozeß
Sehnsüchte.“ (GW 8, 983) Genauer argumentiert dann der Spengler-Essay Geist und Erfah-
rung (1921) : Demnach „sind alle Kulturen in verhältnismäßig kleinen Räumen und Gesell-
schaften entstanden und haben sich von dort ausgebreitet. Darin liegt eine Verdünnungs- und
Erschöpfungstendenz ; die gleiche liegt in der zeitlichen Wirkung durch Generationen. Ideen
(Nicht-Ratioïdes) lassen sich nicht übergeben wie Wissen ; sie erfordern gleichen seelischen
Zustand und in Wirklichkeit ist höchstens ähnliche seelische Disposition vorhanden : so sind
sie ständig der Veränderung unterworfen. Solang sie neu sind, werden sie dadurch vielleicht
bereichert, später korrumpiert. Sie realisieren sich unterwegs allerdings in Einrichtungen und
Lebensformen ; aber eine Idee verwirklichen heißt sie schon teilweise zerstören. Alle Verwirk-
lichungen sind Zerrbilder und in höherem Alter werden sie immer leerer und unverständli-
cher, denn Form und Idee haben ein ganz verschiedenes Lebenstempo ; so ragen immer die
Formen einer älteren Schicht in die Ideen einer neueren herein und konkurrieren mit ihnen
an Einfluß.“ (GW 8, 1055) Mehr dazu bei Fanelli : „Die Frau gestern und morgen“, S. 187 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
- 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der Funktionär Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
- Ein trojanisches Pferd des Militärs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der Geschlechteridentitäten : Die „Träger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen Eheführung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frühes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
- Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne Männerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
- Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- Bildungsbürger contra Kleinbürger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- Bildungsbürger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- Sekundärliteratur zu Musil 1193
- Register 1208