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735âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Zwar sei auch die ars erotica nicht âvollkommen verschwundenâ, werde aber
von der wissenschaftlich âtrockenenâ Medizin und Psychologie definiert bzw.
von der âspezifische[n] Lust am wahren Diskurs ĂŒber die Lustâ verdeckt1179
(wie an den sexualwissenschaftlichen Zitaten Diotimas demonstriert werden
kann). Die Konsequenz dieser charakteristischen Konstellation sei eine Nor-
malisierung der SexualitÀt durch Wissensformen, die weniger auf Lust als auf
Wissen und Erkenntnis zielen â eine in ihren Implikationen und Auswirkun-
gen nicht unproblematische Tendenz1180, der Diotima als gelehrige SchĂŒlerin
der Sexualwissenschaften ohne Vorbehalt folgt, womit sie wiederum ihre un-
befriedigten BedĂŒrfnisse sublimiert, statt sie auszuleben. So gesehen erweisen
sich ihre sexualwissenschaftlichen Studien bloĂ als FortfĂŒhrung der idealis-
tischen Sublimierungsstrategien mit anderen Mitteln. Angesichts ihrer auch
sprachlich zum Ausdruck gebrachten Ambivalenz zwischen wissenschaftli-
chem Anspruch und affektivem BedĂŒrfnis erscheint sie abermals als eine Frau,
welche die WidersprĂŒche der Moderne mehr diskursiv als handlungspraktisch
versöhnen will, dieses Projekt aber nur in einer oberflÀchlichen, inadÀquaten
und brĂŒchigen Form zu betreiben vermag.
Folgendes Fazit lÀsst sich formulieren : Soziologisch betrachtet, definiert
sich Diotima als âdie legitime Gattin des âBĂŒrgersââ1181 Tuzzi, dem sie ihre ge-
sellschaftliche Stellung allererst verdankt, der aber auch von ihr symbolisch
profitiert. Sie bleibt trotz dieser exponierten sozialen Position â in Bourdieus
relationalen Kategorien â als Frau eine âBeherrschte unter Herrschendenâ1182,
was sich lange in ihrem merkwĂŒrdig gebrochenen Diskurs ĂŒber die Rolle der
Frau niederschlÀgt : Einerseits bildet ihr deren legitimes Interesse ein beson-
deres Anliegen, andererseits hĂŒtet sie sich vor einer konsequenten Infrage-
stellung der traditionellen Rollenverteilung. Entsprechendes gilt auch fĂŒr die
strukturell homologe Problematik der Kunst, die fĂŒr Diotima angeblich so
wichtig ist : Sie sieht in ihr nicht essayistisch den Vorschein eines möglichen
anderen Lebens1183, sondern folgt der ĂŒberkommenen und nunmehr geradezu
1179 Ebd., S. 90 f.
1180 Vgl. ebd., S. 95â190.
1181 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 28.
1182 Ebd.
1183 Musils AnsĂ€tzen zu neuer Ăsthetik (1925) zufolge fĂŒhrt âjedesâ ernst zu nehmende âKunstwerkâ,
das keinen âSchnörkelâ und keine âErholungâ, sondern im Gegenteil âeine Verneinung des
wirklichen Lebensâ bedeute, zu einer âGleichgewichtsstörung des WirklichkeitsbewuĂtseinsâ
(GW 8, 1140). An dieser recht rigiden Auffassung gemessen, welche Kunst aus dem âGegen-
satz zur normalen Welthaltungâ (GW 8, 1141) definiert, wirkt Diotimas âbĂŒrgerlichesâ Kunst-
verstÀndnis wie eine affirmative Beschreibung der kompensatorischen Wirkungsweise von
Trivialliteratur.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208