Page - 772 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 772 -
Text of the Page - 772 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld772
Wenngleich der Schriftsteller Zweig seine Diagnose mit alleinigem Blick auf
avancierte Diskurse vornimmt, also die Differenz zwischen symbolischer und
sozialer Ebene in der Gesellschaft ĂŒbersieht, und deshalb die in den realen Le-
bensverhÀltnissen breiterer Bevölkerungsschichten erfolgten VerÀnderungen
etwas ĂŒbertreibt, stimmt sein Befund mit jenem historischen âĂbergangâ in
der Liebesvorstellung ĂŒberein, den Musils Essay Die Frau gestern und morgen
im Zusammenhang mit der VerÀnderung der Geschlechterrollen skizziert :
Der gĂŒltige Liebesbegriff war bis zur Zeit der Eltern und GroĂeltern der zwei heute
lebenden Generationen durch Jahrhunderte der des Ritters gewesen, der seine Dame
sucht und findet[13] ; dabei waren im Lauf der Zeit allerdings die schweren Proben der
Werke, die er um ihretwillen vollbringen muĂte, immer mehr in die SphĂ€re schlech-
ter Romane gerĂŒckt, und auĂerdem hatte sich das ursprĂŒnglich christlich-ritterliche
Ideal so verteilt, daĂ auf den Mann mehr die ritterlichen, auf die Frau die christlichen
Leistungen entfielen. Mit diesem Liebesbegriff, den es im Leben schlieĂlich kaum
noch gab, nach dem sich aber immerhin das Leben richtete, ist es wahrscheinlich
nun vorbei. (GW 8, 1196)
Wie im Mann ohne Eigenschaften Ulrichs âGeschichte mit der Gattin eines
Majorsâ veranschaulicht (vgl. MoE 123â126)14, gleicht sein frĂŒhes Frauenbild
in mancher Hinsicht noch jener ideologischen âĂbersteigerung ohne FĂŒlleâ
(GW 8, 1195), die Musil am Beispiel einer von mĂ€nnlichen InternatsschĂŒlern
aus âirgendein[em] Novellenschatz oder -schatzkĂ€stlein der Weltliteraturâ
(GW 8, 1194) entlehnten und verallgemeinerten Frauenfigur als âHohlwerden
mit daraus folgender Ăbertreibungâ (GW 8, 1196) im Sinne einer problemati-
schen Idealisierung diagnostiziert hat.15 Beim Einsatz der romanesken Basiser-
zÀhlung hingegen ist Ulrich ein dezidiert moderner Romanheld, bei dem der
obsolete âLiebesbegriffâ allenfalls in einer lamentablen Schwundstufe existiert,
indem seine âEroberungenâ aus der Ferne an ein sinnentleertes ritterliches
Gebaren erinnern mögen, wÀhrend die christlich-empathische Komponente
der Liebe im Ersten Buch des Mann ohne Eigenschaften allein als unausgefĂŒllte
Leerstelle vorkommt. Dies sollte sich freilich im unvollendeten Zweiten Buch
â insbesondere in der Geschwisterhandlung â auf maĂgebliche Weise Ă€ndern,
13 EinschlĂ€gig dafĂŒr ist der Beginn von Musils im Mittelalter angesiedelter Novelle Die Portugiesin
(GW 6, 252â270), deren weiterer Verlauf und Ende allerdings in anachronistischer Manier auf
das BrĂŒchigwerden des âalten Liebesbegriffsâ verweisen.
14 Vgl. dazu den einschlÀgigen Abschnitt im Teilkapitel Liebesversuche jenseits der Ehe.
15 Vgl. auch Castex : Auf der Suche nach der verlorenen Frau, S. 59.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208