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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld798
dersprechen, stellt Clarisse einfach die in dieser Hinsicht relativ traditionellen
binÀren Zuordnungen auf den Kopf und bringt die polemische Verve des Phi-
losophen somit konsequent in ein gegenlÀufiges Fahrwasser.93 In diesem Zu-
sammenhang sollte jedoch trotz des dem Musilâschen âMöglichkeitssinnâ oben
konzedierten Potenzials nicht ĂŒbersehen werden, dass eine tatsĂ€chlich auch
auf sozialer Ebene wirksame Umpolung oder gar Abschaffung der herrschen-
den Geschlechterordnung durch einen voluntaristischen Akt im Rahmen der
bestehenden kakanischen Gesellschaft schier unmöglich erscheint.94 Mehr
noch : Die von Clarisse diskursiv betriebene Erosion der GeschlechteridentitÀ-
ten, insbesondere aber ihr verzweifeltes Streben nach deren lebenspraktischer
Subversion, fĂŒhrt im Kontext der rigiden kakanischen Geschlechterordnung
letztendlich in ihre persönliche Katastrophe.
Angesichts der allgegenwÀrtigen Nietzsche-Idolatrie Clarisses, die sie ins-
besondere als Waffe in ihren ehelichen Auseinandersetzungen gebraucht, ist
Ulrichs Ausspruch ihr gegenĂŒber nur konsequent : âWenn ich Walter wĂ€re,
wĂŒrde ich Nietzsche zum Duell herausfordernâ (MoE 49). Mit Clarisses aller-
erst aufs Ăsthetische zielender Nietzsche-Aneignung kann Ulrich im Ăbrigen
selber wenig anfangen, interessiert er sich doch vor allem fĂŒr den radikalen
Erkenntnistheoretiker und kritischen Moralphilosophen, kaum aber fĂŒr des-
sen damals modischen Geniekult und Ăsthetizismus, den Clarisse in geradezu
93 Diese Umkehrung traditioneller Geschlechtsattribute erfĂ€hrt im Roman ĂŒbrigens noch weitere
Fortsetzungen : So wird Clarisse spÀter im Irrenhaus zu ihrer Genugtuung von einem Kranken
als âHerrâ apostrophiert (vgl. MoE 983 f.), und als man sie â zumindest in den frĂŒhen Ent-
wĂŒrfen â selbst ins Venezianische Irrenhaus einliefert, bedauern die âWĂ€rterinnenâ sie dort als
âpoverettoâ (MoE 1804). Blaschke : Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 329, wundert
sich deshalb, âwarum sie nicht geschlechtskonform âpoverettaâ sagen sollenâ, will aber keine
âMutmaĂungen ĂŒber Musils Italienischâ anstellen.
94 Bourdieu : Die mĂ€nnliche Herrschaft, S. 177 f., plĂ€diert gegenĂŒber Judith Butler dafĂŒr, âdie Un-
haltbarkeit der ostentativen Appelle der âpostmodernenâ Philosophie zur âĂberwindung der
Dualismenâ zu erkennen. Diese Dualismen sind tief in den Dingen (den Strukturen) und den
Körpern verankert und nicht aus einem bloĂen Benennungseffekt hervorgegangen und können
daher auch nicht durch einen Akt performativer Magie aufgehoben werden. Die Geschlechter
sind alles andere als bloĂe âRollenâ, die man (in der Art der drag queens) nach Belieben zu spielen
vermöchte, denn sie sind in die Körper und ein Universum eingeprÀgt und beziehen daraus ihre
Macht. Es ist die Geschlechterordnung, auf der die performative Wirksamkeit der Worte â und
ganz besonders der Beleidigungen â grĂŒndet ; und sie ist es auch, die gegen die pseudorevoluti-
onĂ€ren Umdefinitionen des subversiven Voluntarismus resistent ist.â Dass Bourdieu sich hier auf
Butler bezieht, zeigt seine anerkennende Anmerkung, der zufolge die wohl bekannteste Vertre-
terin der Gendertheorie ihre zunĂ€chst verfochtene ââvoluntaristischeâ Sicht des Geschlechts, die
sie in Das Unbehagen der Geschlechter [âŠ] zu vertreten schienâ, im darauf folgenden Buch Körper
von Gewicht âselbst zurĂŒckzuweisenâ sich anschickt (ebd., S. 178, Anm. 36).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208