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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 821
Stellungâ nicht zugĂ€nglich waren), andererseits von einem Pol der SĂŒnde und der
gesellschaftlich zugestandenen sexuellen Initiation, bevölkert von KindermÀdchen,
Prostituierten und den âsĂŒĂen MĂ€delnâ, einem Zwischengenre hĂŒbscher MĂ€dchen
aus dem Volk, die freizĂŒgiger als die jungen BĂŒrgerlichen waren, ohne jedoch in die
Prostitution abzurutschen, und die von Zeit zu Zeit aus den VorstÀdten kamen.144
Konstitutiv fĂŒr solche auĂerehelichen sexuellen Praktiken war offenbar meist
ein erhebliches soziales GefÀlle. Die stete Gefahr ihres ungewollten Bekannt-
werdens fĂŒhrte deshalb in der Regel dazu, dass sie weit abseits der ĂŒblichen
Orte bĂŒrgerlicher Geselligkeit ausgeĂŒbt wurden und mit einem gehörigen
Maà an GeheimniskrÀmerei und Unehrlichkeit einhergingen. Dementspre-
chend bestÀtigt auch Zweig :
Man lasse sich [âŠ] nicht durch die sentimentalen Romane oder Novellen jener
Epoche irrefĂŒhren ; es war fĂŒr die Jugend eine schlimme Zeit, die jungen MĂ€dchen
luftdicht vom Leben abgeschlossen unter die Kontrolle der Familie gestellt, in ihrer
freien körperlichen wie geistigen Entwicklung gehemmt, die jungen MÀnner wie-
derum zu Heimlichkeiten und HinterhÀltigkeiten gedrÀngt von einer Moral, die im
Grunde niemand glaubte und befolgte. Unbefangene, ehrliche Beziehungen [âŠ] wa-
ren nur den allerwenigsten gegönnt.145
Eine recht drastische Erscheinungsform âunehrlicherâ Sexualmoral ist im Mann
ohne Eigenschaften Bonadeas ânymphomanischeâ Beziehung zu Ulrich, die zwar
nicht das besagte soziale GefĂ€lle aufweist, deren (in der stĂ€dtischen bĂŒrgerli-
chen Gesellschaft seit dem spÀten 19. Jahrhundert zwar durchaus nicht un-
ĂŒbliche146, bei Entdeckung aber aufs SchĂ€rfste sanktionierte147) ehebreche-
144 Pollak : Wien 1900, S. 218. Weiter heiĂt es da : âDazu verurteilt, mit den MĂ€dchen aus dem Bo-
densatz der Gesellschaft zu verkehren, waren die jungen BĂŒrgersöhne stĂ€ndig mit den Risiken
von Geschlechtskrankheiten konfrontiert, die damals noch kaum zu kurieren waren.â Der in
jungen Jahren an Syphilis erkrankte und nie vollstÀndig kurierte Musil konnte ein Lied davon
singen. Vgl. auch Zweig : Die Welt von Gestern, S. 109 f.
145 Zweig : Die Welt von Gestern, S. 109.
146 Vgl. Corbin : IntimitĂ€t und VergnĂŒgungen im Wandel, S. 569 f., wo allerdings eingeschrĂ€nkt
wird : âTrotz allem sollte man die HĂ€ufigkeit des Ehebruchs nicht ĂŒberbewerten. GroĂe Teile
der Bevölkerung machten die neue Mode [!] nicht mit. Das Bild der tugendhaften Gattin blieb
fĂŒr das BĂŒrgertum insgesamt verpflichtend.â
147 Vgl. Perrot : Konflikte und Tragödien, S. 227 f.: âAm schwersten wog der Ehebruch einer ver-
heirateten Frau. Der Ehebruch von MĂ€nnern wurde nahezu einschrĂ€nkungslos toleriert, auĂer
wenn der Mann notorisch im Konkubinat lebte. [âŠ] Weiblicher Ehebruch war die absolute
Ăbeltat, gegen die der Mann alle Rechte hatteâ.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208