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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 861
sieht.238 Neymeyr beruft sich in ihrer Interpretation auf die Freudâsche Hyste-
riedeutung, insbesondere auf den kurzen Text Allgemeines ĂŒber den hysterischen
Anfall (1909). Demnach sind hysterische âAnfĂ€lle nichts anderes [âŠ] als ins
Motorische ĂŒbersetzte, auf die MotilitĂ€t projizierte, pantomimisch dargestellte
Phantasien. UnbewuĂte Phantasien zwar, aber sonst von derselben Art, wie
man sie in den TagtrÀumen unmittelbar erfassen, aus den nÀchtlichen TrÀu-
men durch Deutung entwickeln kann.â239 Freuds Darstellung gipfelt in der
bekannten These, der âhysterische Krampfanfallâ sei âein KoitusĂ€quivalentâ240
â und zwar insofern, als das âKrampfstadium [âŠ] dem Koitusâ entspreche.241
Bezieht man dieses Konzept nun auf den hysterischen Anfall Gerdas, dann er-
scheint die Analogie zwischen dem Krampfstadium und dem Koitus nur in ei-
nem recht metaphorischen Sinn schlĂŒssig, weil die auch sonst eher frigid wir-
kende Gerda durch ihren Anfall den Vollzug des Koitus ja gerade verhindert.
Generell widerspricht Gerdas FrigiditÀt der bereits von Krafft-Ebing vertrete-
nen These einer krankhaften Erregung des Sexuallebens von Hysterikern242
und lÀsst diese eher als Projektion des mÀnnlichen Arztes erscheinen. Wei-
ter fĂŒhrt hier wohl ein Blick in Eugen Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie ; dort
heiĂt es zur âSexualitĂ€t der Hysterischenâ, die ânoch viel weniger zu beurtei-
lenâ sei âals die Andererâ : â[W]ir sehen alle Extreme, namentlich auch unter
den weiblichen Hysterischen viele, die beim Koitus frigid oder sogar negativ
eingestellt sind, wĂ€hrend sie psychosexuell sehr empfindsam sein können.â243
Die von Neymeyr herangezogene Freudâsche Deutung hilft dagegen kaum
weiter.244 TatsÀchlich einschlÀgig wirkt im gegenwÀrtigen Fall allenfalls Freuds
Nebenbemerkung, dass âdurch die Produktion des Anfalls ein dem Kranken
nĂŒtzlicher Zweck erreicht werden kannâ245. Genau dieser Aspekt wird aber
nicht von Freud, sondern von Bleuler sowie von Ernst Kretschmers Medizini-
scher Psychologie stark gemacht.
238 Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 235.
239 Freud : Allgemeines ĂŒber den hysterischen Anfall, S. 235. âDer hysterische Anfall bedarf also
der gleichen deutenden Bearbeitung wie wir sie mit den nĂ€chtlichen TrĂ€umen vornehmen.â
240 Ebd., S. 239.
241 Ebd., S. 237.
242 Vgl. Krafft-Ebing : Psychopathia sexualis, S. 368.
243 Bleuler : Lehrbuch der Psychiatrie, S. 415 bzw. (2. Auflage) S. 394.
244 Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 236, stĂŒtzt sich neben der zitierten Stelle auf fol-
gende Deutung aus Freud : Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur BisexualitÀt [1908],
S. 196 : âDas hysterische Syndrom entsteht als KompromiĂ aus zwei gegensĂ€tzlichen Affekt-
oder Triebregungen, von denen die eine einen Partialtrieb oder eine Komponente der Sexual-
konstitution zum Ausdrucke zu bringen, die andere dieselben zu unterdrĂŒcken bemĂŒht ist.â
245 Freud : Allgemeines ĂŒber den hysterischen Anfall, S. 238.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208