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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 887
WeltverhĂ€ltnisses ĂŒberhaupt scheint indes keine gewesen zu sein, die Ulrichs
emotionalem BedĂŒrfnis entsprochen hĂ€tte â man denke nur an die verquaste
Liebesideologie des âchristgermanischenâ Kreises um Hans Sepp oder an den
verlogenen, folgenlos bleibenden Liebesdiskurs zwischen Diotima und Arn-
heim. Der ErzÀhler deutet das bereits im Eingangsteil des Romans an, indem
er ĂŒber den mĂ€nnlichen Helden berichtet : âEs war ihm zuweilen geradeso
zumute, als wĂ€re er mit einer Begabung geboren, fĂŒr die es gegenwĂ€rtig kein
Ziel gab.â (MoE 60) Die Beschaffenheit der zeitgenössischen Kultur und Ge-
sellschaft und nicht eine fehlende âinnere Anlageâ Ulrichs scheint ihn an der
produktiven Entfaltung seines auch emotionalen Vermögens zu hindern. An
anderer Stelle diagnostiziert die essayistische ErzÀhlstimme an Ulrich eine an-
geblich zeittypische psychische Disjunktion :
Seine Entwicklung hatte sich offenbar in zwei Bahnen zerlegt, eine am Tag liegende
und eine dunkel abgesperrte, und der ihn umlagernde Zustand eines moralischen
Stillstands, der ihn seit langem und vielleicht mehr als nötig bedrĂŒckt hatte, konnte
von nichts anderem als davon kommen, daĂ es ihm niemals gelungen war, diese bei-
den Bahnen zu vereinen. (MoE 593)
Dem an seiner Einsamkeit leidenden Mann ohne Eigenschaften, der sich in
die ihn umgebende Gesellschaft mit ihren vorgefertigten Rollenmustern nicht
einfĂŒgen will, wird es im Verlauf des Ersten Buchs zunehmend selber klar,
daĂ sein Leben, wenn es ĂŒberhaupt Sinn besaĂ, keinen anderen hatte als diesen, daĂ
sich die beiden GrundsphÀren der Menschlichkeit darin selbst zerlegt zeigten und
einander in der Wirkung entgegenstanden. Solche Menschen werden offenbar heute
geboren, aber sie bleiben noch allein, und allein war er nicht imstande, das Auseinan-
dergefallene von neuem zusammenzubringen. (MoE 594)
Deutlich wird in solchen Worten zunÀchst, dass sich das Gestaltlosigkeits-
theorem durchaus als romankonzeptionelle Voraussetzung auch fĂŒr Ulrichs
zunÀchst lange ziel- und objektlose Sehnsucht erweist, die insofern keines-
wegs in einem ahistorischen, asozialen Raum angesiedelt ist, wie manche
Interpreten suggeriert haben313, sondern einen solchen âNicht-Ortâ im Ge-
genteil bloĂ als utopischen Fluchtpunkt entwirft : âVerhĂ€ltnismĂ€Ăig anteilslos
gestand er sich ein, daĂ der Beziehung zwischen Agathe und ihm von Anfang
313 Vgl. etwa Böhme : Eine Zeit ohne Eigenschaften, S. 309â311 ; Renner : Transformatives ErzĂ€h-
len, S. 79.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208