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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld890
eine Verfehlung gegen die Natur verurteilt wird, die sich vorzĂŒglich dazu eignet, die
androzentrische Mythologie zu verstÀrken.320
Freilich sollte hier nicht vergessen werden, dass die Chancen einer glĂŒckli-
chen Liebe sozial ungleich verteilt sind und dass ihre scheinbar normspren-
gende Verwirklichung umso mehr zu einer Verkennung ihres tatsÀchlich
reproduktiven Charakters fĂŒhren kann, je mehr die Geschlechterrollen gesell-
schaftlich festgelegt sind. Anders ausgedrĂŒckt : Genau jene leidenschaftliche
Liebe, die ein herrschaftsfreies GeschlechterverhÀltnis zu bewirken scheint,
kann zur bloĂen Ideologie geraten, wenn (insbesondere bei steigender Ka-
pitalausstattung) die âeigenschaftsbildendeâ Rollenzuschreibung unverĂ€ndert
den Mann auf öffentliche Herrschaft und die Frau auf familiÀre Reproduktion
festlegt.321 Mit Blick auf das Figurenarsenal von Musils Roman wird man des-
halb wiederum differenzieren mĂŒssen : So vergisst Arnheim selbst am Gip-
fel seiner Leidenschaft fĂŒr Diotima niemals seine sozialen Verpflichtungen,
wohingegen Ulrich nach der Wiederbegegnung mit seiner Schwester sofort
bereit ist, sĂ€mtliche RĂŒcksichten auf seine gesellschaftliche Existenz ĂŒber Bord
zu werfen. FĂŒr ihn liegt in der möglichen âZerrĂŒttung der gewöhnlichen, nor-
malen, natĂŒrlichen Ordnungâ keine Gefahr, sondern ein ungeheures Potenzial
verborgen, wÀhrend etwa Bonadea im Zweiten Buch des Mann ohne Eigen-
schaften seinen â auch vom General Stumm von Bordwehr nicht akzeptier-
ten (vgl. MoE 779 f.) â RĂŒckzug aus der Parallelaktion322 sowie vor allem die
neue geschwisterliche Zweisamkeit bald âals eine Verfehlung gegen die Naturâ
missbilligt (vgl. MoE 892).
Die IntensitÀt der gesellschaftlich verpönten, ja verbotenen Liebe zwischen
Ulrich und seiner Schwester Agathe ist einzigartig im Musilâschen Roman-
kosmos. In ihr scheint zumindest vorĂŒbergehend die âheterotopischeâ Mög-
lichkeit einer Sistierung der in Kakanien scheinbar allgewaltigen patriarchalen
MachtverhÀltnisse auf. Bourdieu zufolge kann es in einer leidenschaftlichen
und anhaltenden gegenseitigen Liebe,
dieser Art wunderbaren Waffenstillstandes, wo die Herrschaft unter Kontrolle ge-
bracht oder, besser, aufgehoben und die mÀnnliche Gewalt befriedet zu sein scheint
(die Frauen zivilisieren, wie oft genug festgestellt, indem sie den sozialen Bezie-
320 Ebd.
321 Vgl. dazu Becker : Liebe, S. 626.
322 Ulrich möchte sich â bezeichnenderweise nach der RĂŒckkehr vom BegrĂ€bnis des Vaters â âvon
der ganzen Geschichte jetzt zurĂŒck[ziehen]â, weil sie ihm âzu dummâ ist (MoE 779 f.).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208