Page - 920 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 920 -
Text of the Page - 920 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld920
mulierungen dennoch aufscheinende Utopie eines âmotivierten Lebensâ, eines
âerfĂŒllten Daseinsâ und einer âvollkommenen ReziprozitĂ€tâ glĂŒcklicher Liebe
lÀsst sich im Rahmen seiner Beziehung zu Diotima allerdings nicht verwirk-
lichen, weil die erwÀhnte habituelle Homologie zwischen den beiden nicht
weit genug geht bzw. von gesellschaftlichen RĂŒcksichten korrumpiert wird.
Dies soll nun abschlieĂend eine Analyse offenlegen, die zu heuristischen Zwe-
cken weniger auf Gemeinsamkeiten, sondern in erster Linie auf dispositionelle
Differenzen zwischen den sich vergeblich Liebenden fokussiert.
Durch die Heirat mit Tuzzi und ihre mittelbar daraus resultierende Auf-
gabe als Gastgeberin und geistiges Zentrum der Parallelaktion erlebt die Leh-
rertochter einen rasanten gesellschaftlichen Aufstieg, der ihr selber bisweilen
schwindelerregend vorkommt : âEs wurde ihr manchmal wirr zumute, wenn
sie um sich sah und ihr Haus voll vom Adel der Welt und des Geistes er-
blickte. Von der Geschichte ihres Lebens war nur der Ă€uĂerste Gegensatz zwi-
schen Tiefe und Höhe ĂŒbrig geblieben, ihre Lage als MĂ€dchen, voll banger
Mittelstandsbeengtheit, und jetzt der die Seele blendende Erfolg.â (MoE 423)
Es ist der Umstand, dass sich Letzterer seitdem so kontinuierlich eingestellt
hat, der bei ihr das Verlangen nach einer weiteren Fortsetzung dieser steten
Bewegung ĂŒber die Tuzziâschen VerhĂ€ltnisse hinaus aufkommen lĂ€sst :
[S]ie fĂŒhlte die Forderung, obgleich sie schon auf schwindelnd schmaler Stufe stand,
den Fuà noch einmal zu heben, in der Erwartung, daà es noch höher gehe. Die Un-
sicherheit zog sie an. Sie rang mit dem BeschluĂ, in ein Leben einzutreten, wo TĂ€-
tigkeit, Geist, Seele und Traum eins sind. Sie machte sich im Grunde keine Sorgen
mehr darĂŒber, daĂ sich keine krönende Idee der Parallelaktion zeigen wollte ; auch
Weltösterreich war ihr gleichgĂŒltiger geworden ; selbst das Erlebnis, daĂ es zu je-
dem groĂen Entwurf des menschlichen Geistes einen Gegenentwurf gibt, hatte keine
Schrecken mehr fĂŒr sie. (MoE 423)
Indem sie dem Willen nach persönlichem Fortkommen umstandslos ihre
hehren und doch so idealistischen patriotischen Bestrebungen opfert, werden
diese ein letztes Mal und nun endgĂŒltig desavouiert. Diotima legt damit eine
Sonderform der charakteristischen habituellen hysteresis394 einer Aufsteigerin
394 Vgl. Bourdieu : Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 183 ; ders.: Sozialer Sinn, S. 116 f., wo es
u. a. heiĂt : âDie Neigung zum Verharren in ihrem Sosein, welche [âŠ] unter anderem darauf
zurĂŒckgeht, daĂ die Handelnden [âŠ] dauerhafte Dispositionen aufweisen [âŠ], kann Grund-
lage sowohl von Nichtanpassung wie von Anpassung, von Auflehnung wie von Resignation
sein.â
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208