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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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„Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ 921 an den Tag, wie der ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich betont : „[S]ie hatte niemals die Gewohnheit des braven, jungen MĂ€dchens, das zu Ă€lteren MĂ€nnern ehrgei- zig aufblickt, ganz abgelegt“ (MoE 424). Eine alternative, radikalere Form der Liebe als die in der gewöhnlichen Ehe praktizierte kommt ihr deshalb gar nicht in den Sinn : „Am liebsten wĂŒrde sie ihre Aktion stehen gelassen und Arnheim geheiratet haben, so wie fĂŒr ein kleines MĂ€dchen alle Schwierigkei- ten gut sind, wenn es sie fallen lĂ€ĂŸt und an die Brust des Vaters stĂŒrzt. Aber das unsagbare Ă€ußere Wachstum ihrer TĂ€tigkeit hielt sie fest.“ (MoE 423 f.) Sogar zu dieser, dem ErzĂ€hler zufolge reichlich infantilen Art der Revolte ge- gen die eheliche Tristesse im Hause Tuzzi kann sie sich aus KarrieregrĂŒnden nicht aufraffen, zumal sie die herkömmliche Sexualmoral trotz ihrer spĂ€te- ren sexualwissenschaftlichen LektĂŒren innerlich nie ĂŒberwindet : „Sie hielt eine Trennung ein, zwischen sozusagen amtlicher Unkeuschheit und privater Keuschheit, wie eine Ärztin oder eine soziale FĂŒrsorgerin“ (MoE 102). Das Ă€ußert sich gerade im GesprĂ€ch ĂŒber außereheliche Beziehungen, wie der ErzĂ€hler belustigt kommentiert : „Sie hatte die Miene ihrer ‚amtlichen Un- keuschheit‘ aufgesetzt, eine Art bebrillten Ausdrucks, den sie annahm, wenn ihr Geist ihr befahl, Dinge anzuhören oder zu sagen, die ihrer Seele als Dame eigentlich verboten waren.“ (MoE 819) Anders als Bonadea hĂ€lt Diotima zwar nicht in ihrer Phantasie, aber doch in ihrer Praxis letztlich der Ehe die Treue, und das einzige, wozu sie sich – selten genug – hinreißen lĂ€sst, sind alles in allem wiederum eher infantile Gesten : „[A]ußer Arnheims Hand hatte sie seit den ersten Wochen ihrer Ehe keines anderen Mannes Hand lĂ€nger als zwei Sekunden in der ihren gehalten“ (MoE 816). Das keusche HĂ€ndchenhalten ersetzt hier die so ersehnte, „im Geiste“ bereits akzeptierte, realiter jedoch ausbleibende körperliche Vereinigung (MoE 504) ; der „schwer[e]“ Rausch ist als Ausdruck eines „gerade noch ertrĂ€glichen geistigen GlĂŒckes“ dazu ver- dammt (MoE 504), sich in ergebnislosem Warten auf jene ertrĂ€umte ErfĂŒllung zu erschöpfen, „wo Seele und Leib ganz eins“ (MoE 183) wĂ€ren.395 Bei Diotima geht es freilich nicht allein um hysteresis, die im eigentlichen Wortsinn ja das Verschwinden jenes sozialen Kontextes voraussetzt, in Bezug auf den ihr Habitus entstanden ist und an dem er dann dennoch festhĂ€lt. Die 395 Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 213, beschreibt „Diotimas dilemmatische Situation“ wie folgt : „Sie ist eingeklemmt zwischen den AnsprĂŒchen ihres Körpers (deren ErfĂŒllung sie unter der Liebesregie ihres Mannes als Beleidigung ihrer Seele begreift) und den AnsprĂŒchen ihrer Seele, die Arnheim befriedigt, der aber ihren Körper ignoriert. / Der gesellschaftliche Dualismus fin- det hier seinen Ausdruck in der Spaltung von Körper und Seele, die sich in den Figuren Tuzzi und Arnheim manifestiert. Diotimas LiebesansprĂŒche verweisen auf die Notwendigkeit einer Überwindung dieser Spaltung, die ihr aber nicht gelingt.“
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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Title
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Subtitle
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Author
Norbert Christian Wolf
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2011
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78740-2
Size
15.5 x 23.0 cm
Pages
1224
Keywords
Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
Category
Geisteswissenschaften

Table of contents

  1. Vorbemerkung 9
  2. Einleitung 11
    1. 1. Vom Scheitern eines Großkritikers : Aporien der Literaturkritik 11
    2. 2. Die MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung 20
  3. TEIL I : GRUNDLEGUNG
    1. 1. Grundlagen der Untersuchung 43
      1. 1.1 Vorstellung der Methode : Bourdieus Sozioanalyse literarischer Texte 43
      2. 1.2 Methodologische EinwÀnde : Kritik der Sozioanalyse 58
    2. 2. Grundlagen der Poetik Musils 64
      1. 2.1 Der Mensch ohne Eigenschaften : ‚Gestaltlosigkeit‘ als ‚negative‘ Anthropologie 64
      2. 2.2 ‚Gestaltlosigkeit‘ und Romantext als Gesellschaftskonstruktion 80
    3. Gesellschaft im Roman 82
    4. Roman als Konstruktion 101
    5. Da capo : Angemessenheit und Vorgehensweise der Sozioanalyse 124
      1. 2.3 Medienkonkurrenz : Essayistisches vs. filmisches ErzÀhlen (Musil kontra Balåzs) 129
    6. 3. Grundbegriffe des Romankonzepts 165
      1. 3.1 Eigenschaftslosigkeit 165
      2. 3.2 Möglichkeitssinn und Essayismus 199
  4. TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
    1. 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
      1. 1.1 SelbstreferenzialitĂ€t und Außenreferenz : Das Eingangskapitel 261
      2. 1.2 Ein Land ohne Eigenschaften – Kakanien als Modell 282
      3. 1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften 300
    2. 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
      1. 2.1 MĂ€nner 334
    3. Erben und Enterbte 344
    4. Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
    5. Mann mit Eigenschaften 378
    6. Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
    7. Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
    8. Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
    9. Aufsteiger und Gebremste 482
    10. Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
    11. Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
    12. Terroristen und Propheten 548
    13. Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
    14. eingast, Faschist und Schwerenöter 584
    15. Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
    16. Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
      1. 2.2 Frauen 635
    17. Gefallene Geliebte 643
    18. Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
    19. Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
    20. Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
    21. Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
    22. Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
    23. Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
    24. Angepasste und Dissidentinnen 708
    25. Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
    26. Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
    27. 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
      1. 3.1 Gemischtgeschlechtliche Konstellationen : MĂ€nner und Frauen im 20. Jahrhundert 771
    28. Ehen in der Krise 781
    29. Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die „TrĂ€ger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
    30. Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
    31. Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
    32. Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
    33. Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
    34. Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
    35. Liebesversuche jenseits der Ehe 885
    36. Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
    37. Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
    38. Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
    39. Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
    40. 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
    41. Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
    42. Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
    43. Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
    44. Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
    45. Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
    46. BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
  5. BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
  6. TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
    1. 1. Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1099
      1. 1.1 ‚Negative‘ Anthropologie als literaturpolitischer Einsatz 1101
      2. 1.2 Poetik des Essayismus – Musils vielfacher Bruch 1130
    2. 2. Autor und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse 1152
  7. Literaturverzeichnis 1169
  8. Musil-Texte 1169
  9. Andere Quellen 1169
  10. Nachschlagewerke 1176
  11. Allgemeine Forschungsliteratur 1176
  12. SekundÀrliteratur zu Musil 1193
  13. Register 1208
    1. 1. Personen 1208
    2. 2. Literarische Figuren 1214
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