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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 921
an den Tag, wie der ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich betont : â[S]ie hatte niemals die
Gewohnheit des braven, jungen MÀdchens, das zu Àlteren MÀnnern ehrgei-
zig aufblickt, ganz abgelegtâ (MoE 424). Eine alternative, radikalere Form der
Liebe als die in der gewöhnlichen Ehe praktizierte kommt ihr deshalb gar
nicht in den Sinn : âAm liebsten wĂŒrde sie ihre Aktion stehen gelassen und
Arnheim geheiratet haben, so wie fĂŒr ein kleines MĂ€dchen alle Schwierigkei-
ten gut sind, wenn es sie fallen lĂ€Ăt und an die Brust des Vaters stĂŒrzt. Aber
das unsagbare Ă€uĂere Wachstum ihrer TĂ€tigkeit hielt sie fest.â (MoE 423 f.)
Sogar zu dieser, dem ErzÀhler zufolge reichlich infantilen Art der Revolte ge-
gen die eheliche Tristesse im Hause Tuzzi kann sie sich aus KarrieregrĂŒnden
nicht aufraffen, zumal sie die herkömmliche Sexualmoral trotz ihrer spÀte-
ren sexualwissenschaftlichen LektĂŒren innerlich nie ĂŒberwindet : âSie hielt
eine Trennung ein, zwischen sozusagen amtlicher Unkeuschheit und privater
Keuschheit, wie eine Ărztin oder eine soziale FĂŒrsorgerinâ (MoE 102). Das
Ă€uĂert sich gerade im GesprĂ€ch ĂŒber auĂereheliche Beziehungen, wie der
ErzĂ€hler belustigt kommentiert : âSie hatte die Miene ihrer âamtlichen Un-
keuschheitâ aufgesetzt, eine Art bebrillten Ausdrucks, den sie annahm, wenn
ihr Geist ihr befahl, Dinge anzuhören oder zu sagen, die ihrer Seele als Dame
eigentlich verboten waren.â (MoE 819) Anders als Bonadea hĂ€lt Diotima zwar
nicht in ihrer Phantasie, aber doch in ihrer Praxis letztlich der Ehe die Treue,
und das einzige, wozu sie sich â selten genug â hinreiĂen lĂ€sst, sind alles in
allem wiederum eher infantile Gesten : â[A]uĂer Arnheims Hand hatte sie seit
den ersten Wochen ihrer Ehe keines anderen Mannes Hand lÀnger als zwei
Sekunden in der ihren gehaltenâ (MoE 816). Das keusche HĂ€ndchenhalten
ersetzt hier die so ersehnte, âim Geisteâ bereits akzeptierte, realiter jedoch
ausbleibende körperliche Vereinigung (MoE 504) ; der âschwer[e]â Rausch ist
als Ausdruck eines âgerade noch ertrĂ€glichen geistigen GlĂŒckesâ dazu ver-
dammt (MoE 504), sich in ergebnislosem Warten auf jene ertrĂ€umte ErfĂŒllung
zu erschöpfen, âwo Seele und Leib ganz einsâ (MoE 183) wĂ€ren.395
Bei Diotima geht es freilich nicht allein um hysteresis, die im eigentlichen
Wortsinn ja das Verschwinden jenes sozialen Kontextes voraussetzt, in Bezug
auf den ihr Habitus entstanden ist und an dem er dann dennoch festhÀlt. Die
395 Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 213, beschreibt âDiotimas dilemmatische Situationâ wie folgt :
âSie ist eingeklemmt zwischen den AnsprĂŒchen ihres Körpers (deren ErfĂŒllung sie unter der
Liebesregie ihres Mannes als Beleidigung ihrer Seele begreift) und den AnsprĂŒchen ihrer Seele,
die Arnheim befriedigt, der aber ihren Körper ignoriert. / Der gesellschaftliche Dualismus fin-
det hier seinen Ausdruck in der Spaltung von Körper und Seele, die sich in den Figuren Tuzzi
und Arnheim manifestiert. Diotimas LiebesansprĂŒche verweisen auf die Notwendigkeit einer
Ăberwindung dieser Spaltung, die ihr aber nicht gelingt.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208