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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 923
enden muĂ.â (GW 7, 940) Eine genauere BegrĂŒndung fehlt hier freilich. Zu
dieser Frage erteilt nur der kanonische Romantext Auskunft, und auch das nur
indirekt. Der âSeelenromanâ â so könnte man gleichsam emendieren â muss
âim Leeren endenâ, weil er vor allem auf Seiten Arnheims nicht kompromiss-
los genug betrieben wird. Der Nabob nÀmlich spielt die konkrete Möglichkeit
einer zwischenmenschlichen Liebe immer mehr gegen seine recht abstrakten,
aber umso öffentlichkeitswirksameren prophetischen Einheitsvisionen aus
und setzt zuletzt ausschlieĂlich auf Zweitere :
Was wog nun gegen Erlebnisse von solcher Ausdehnung und Tiefe des Hintergrunds
das etwas gewöhnliche der körperlich an eine Frau geknĂŒpften Liebe ? Arnheim
muĂte sich leider gestehen, daĂ es genau so viel wog wie die sein Leben zusammen-
fassende Erkenntnis, daĂ alle Wege zum Geist von der Seele ausgehen, aber keiner
zurĂŒckfĂŒhrt ! GewiĂ hatten sich schon viele Frauen naher Beziehungen zu ihm glĂŒck-
lich geschÀtzt, aber wenn es nicht parasitÀre Naturen waren, so waren es tÀtige, stu-
dierte Frauen und KĂŒnstlerinnen, denn mit der ausgehaltenen und der selbst erwer-
benden Gattung Frau konnte man sich auf Grund klarer VerhÀltnisse verstÀndigen ;
die moralischen BedĂŒrfnisse seiner Natur hatten ihn immer in Beziehungen gefĂŒhrt,
wo der Instinkt und die ihn begleitenden unvermeidlichen Auseinandersetzungen
mit Frauen an der Vernunft einen gewissen Halt hatten. Aber Diotima war das erste
Weib, das sein hintermoralisches, geheimeres Leben ergriff, und er sah sie deshalb
manchesmal geradezu mit Scheelsucht an. (MoE 392 f.)
Arnheim vergisst auch angesichts seiner so ostentativ verlautbarten affektiven
BedĂŒrfnisse nicht seinen Status und das GeschĂ€ft, was sich in seiner allmĂ€h-
lichen inneren Distanzierung von Diotima zeigt, wie der ErzÀhler in erlebter
Rede zu erkennen gibt : âSie war schlieĂlich nichts als eine Beamtengattin,
von bestem Stil zwar, aber [âŠ] er hĂ€tte Anspruch auf ein MĂ€dchen aus der
amerikanischen Hochfinanz oder dem englischen Hochadel besessen, wenn
er sich ganz binden wollte.â (MoE 393) Damit erinnert die Romanfigur in-
sofern an ihr historisches Modell Rathenau, als dieser den zeitgenössischen
Berichten zufolge gegenĂŒber seiner groĂen Liebe Lili Deutsch ebenfalls stets
eine âkĂŒhle ZurĂŒckhaltung trotz starker Leidenschaftâ an den Tag legte, weil
er âAngst vor einem Skandalâ hatte und wusste, âwas der fĂŒr seine Stellung be-
deuten könneâ ; die ihn liebende Lili Deutsch fĂŒhlte sich deshalb (Ă€hnlich wie
schlieĂlich auch ihr romaneskes Pendant) âhinter die A.E.G. zurĂŒckgesetztâ.397
397 Lili Deutsch ĂŒber Rathenau und Harden [In : Rathenau â Harden : Briefwechsel 1897â1920,
S. 807â812], S. 809 ; die zitierten Passagen finden sich unter den Eintragungen zum 21. Novem-
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208