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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 947
dieser nicht nur politisch âverhĂ€rteteâ Mann, dessen ostentativer âHerma-
phroditismus der Seeleâ als âArt innerer Androgynieâ479 die Zeichen jener
âmĂ€nnlichenâ Doxa trĂ€gt, deren pervertierter Effekt er ist, im pathetisch-mĂ€n-
nerbĂŒndlerischen Ton Stefan Georges herablassend : âEine gewisse Durch-
streichung der Ich-Betonung bei DualitÀt der Leiber : das kann eine Frau
leisten. Aber niemals löst sie sich in eine höhere Gemeinschaft auf ââ (MoE
1538). Vergeblich versucht sie, mit dem misogynen Philosophen in âein seeli-
sches Verschlungensein zu drittâ (MoE 1540) ĂŒberzugehen480, da seine heim-
lichen Begierden in eine ganz andere Richtung weisen. In den verzweifelten
âProklamationen der verwirrten Clarisseâ offenbart sich nach dem roman-
konstitutiven Muster von âAnalogie und Variationâ ein âGegengleichnisâ zu
Ulrich und Agathe, das âweit von der androgynen Union der Geschwister
entfernt istâ.481
Zur Veranschaulichung seines utopischen Projekts gleichberechtigter âGe-
schwisterliebeâ im âanderen Zustandâ zeichnet auch Musil immer wieder Mo-
mente des unmittelbaren, direkten EinverstĂ€ndnisses, die sogar die âUrheber-
schaftâ von Gedanken und GefĂŒhlen verschwimmen lassen. So wird in den
einschlĂ€gigen Kapiteln des Zweiten Buchs â Ă€hnlich wie bei Woolfs âThey
had not needed to speakâ â das gegenseitige Verstehen der Geschwister in
den emotional intensivsten Momenten ihrer Zweisamkeit (und trotz der hÀu-
fig konstatierten auffallenden GesprÀchslastigkeit der entsprechenden Passa-
gen482) durch das sprachliche Kommunikationsmedium nicht mehr gestiftet,
sondern nur noch bestÀtigt, wie Agathe bemerkt :
479 Ebd., S. 58.
480 Nicht das Scheitern Clarisses, sondern die âOvidische Konfigurationâ dieser Szene erlĂ€utert
Neumann : Androgynie und Inzest, S. 156.
481 Aurnhammer : Androgynie, S. 295.
482 Vgl. dazu etwa Blanchot : Musil, S. 197, sowie Musil selbst im Nachlasskapitel âGesprĂ€che ĂŒber
die Liebeâ, worin der ErzĂ€hler vermutet, dass die menschliche âLiebseligkeit mit der Redse-
ligkeit im Wesen verbundenâ sei, âund das so tief geheimnisvoll, daĂ es fast an die Alten ge-
mahnt, nach deren Philosophie Gott, Menschen und Dinge aus dem âLogosâ entstanden sind,
worunter sie abwechselnd den Heiligen Geist, die Vernunft und das Reden verstanden haben.
Nun, nicht einmal die Psychoanalyse und die Soziologie haben Wesentliches darĂŒber gelehrt,
obwohl diese beiden jĂŒngsten Wissenschaften schon mit dem Katholizismus wetteifern dĂŒrfen,
sich in alles Menschliche eingemischt zu haben. Man muĂ sich also selbst den Reim darauf
bilden, daĂ GesprĂ€che in der Liebe fast eine gröĂere Rolle spielen als alles andere. Sie ist das
gesprĂ€chigste aller GefĂŒhle und besteht zum groĂen Teil ganz aus GesprĂ€chigkeit. [âŠ] Der
Grund könnte in der Erweckung des kontemplativen Denkens durch die GefĂŒhle der Liebe,
und in seiner dauernden Verbindung mit ihnen liegen ; aber damit wÀre freilich die Frage vor-
derhand nur verschobenâ (MoE 1219 f.).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208