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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 997
sienâ geworden ist, âderen die wirkliche Gesellschaft sich entschlagen hatâ.619
Dagegen betont Friedrich Balke mit gutem Grund : âDer Mann ohne Eigen-
schaften will [âŠ] keine Neuauflage der alten Klage ĂŒber unsere entfremdete
conditio sein, kein Aufruf, uns wieder in den Besitz unserer vormaligen QualitÀ-
ten zu setzen.â620 Musil folgt im Gegenteil einer âstrengen schriftstellerischen
Auffassung, die ihm eher zu schreiben verbietet als mit seinem Schreiben blo-
Ăen Illusionen zu schmeichelnâ621. Sein kĂŒnstlerisches Thema ist deshalb â
weit entfernt von jeder Mythologie oder gar ReligiositĂ€t â die eindringliche
und insistierende Frage nach der Möglichkeit von GlĂŒck und Liebe in der
Moderne genauso wie nach den GrĂŒnden fĂŒr deren Scheitern. In einer Welt,
die unmittelbar vor dem âAusbruchâ des bis dahin gröĂten Gewaltexzesses der
Geschichte steht, mit langfristigen fatalen Folgen fĂŒr die gesamte europĂ€ische
Gesellschaft, wissen die beiden Geschwister Ulrich und Agathe : âWir werden
wohl eine Art Letzte Mohikaner der Liebe sein !â (MoE 1094) Darin mag auch
ein Grund liegen, weshalb Musil solche Schwierigkeiten mit dem Abschluss
des Romans hatte, der ja âdie letzte Liebesgeschichteâ (MoE 1094 ; Br 1, 615)
beschreiben sollte. Maurice Blanchot vermutet jedenfalls in diesem Sinn, âdaĂ
alle die[ ] ĂŒber jedes MaĂ hinausschwellenden Entwicklungen des Themas,
die zwar das Buch um seine Ausgewogenheit bringen, dennoch aber nicht
als miĂglĂŒckt anzusehen sind, in der unmöglichen Liebe [âŠ] vielmehr ein
GlĂŒck und eine Wahrheit aufleuchten lassen, die Musil, seiner Erwartung und
seinem Plan zuwider, nicht als bloĂe Illusion zu zerstören sich entschlieĂen
konnteâ622.
619 So Frank : Auf der Suche nach einem Grund, S. 353.
620 Balke : Auf der Suche nach dem âanderen Zustandâ, S. 314.
621 Blanchot : Musil, S. 194.
622 Ebd., S. 199. Blanchot sieht in der positiven, utopischen Seite des âanderen Zustandsâ ein Po-
tenzial zwischenmenschlicher Liebe verborgen, das âzunĂ€chst nur der Leidenschaft des ge-
setzlosen Paars zugĂ€nglich istâ, sich aber âin der Gemeinschaft aller inbrĂŒnstig ausbreitenâ
(S. 195) könnte. Zuletzt jedoch bleibe âder entbrannten Aufgeschlossenheit zweier Menschen
fĂŒreinander die Kraft versagt, der menschlichen Gemeinschaft die freie Bahn einer von keiner-
lei Gewohnheit gefesselten, reinen und neugeborenen Handlungsweise zu eröffnen.â (S. 200)
Noch weiter geht Johach : Die unerlösten Geschlechter Kakaniens, S. 132, die den zentralen
Fokus von Musils Roman ein wenig forciert in einer âschier gigantischen Erlösungsvorstel-
lungâ ausmacht : âAls AuserwĂ€hlte könnten die Geschwister durch eine âstellvertretendeâ Ver-
einigung zugleich die Erlösung der gesamten Menschheit herbeifĂŒhren â allerdings, wie der
Untertitel andeutet, ĂŒber den Weg des Verbrechens. Der Topos vom tausendjĂ€hrigen Reich
der Liebe wird hier weniger im Sinne einer religiösen als einer geschlechterpolitischen Heils-
erwartung aufgegriffen : als ein Anbruch eines Zeitalters, worin die Menschen von den ZwÀn-
gen gegenwĂ€rtiger GeschlechterverhĂ€ltnisse befreit wĂ€ren.â GĂ€nzlich ungedeckt vom Text
des Mann ohne Eigenschaften scheint schlieĂlich die Identifizierung des âSchlĂŒssel[s]â dieser
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208