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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1033
der Mehrheit befindliche Auserlesenheit, und das umgibt ihn mit einer bleibenden
geistigen Spannung. (MoE 429)
SpĂ€testens an dieser Stelle dĂŒrfte den meisten zeitgenössischen Lesern und
Leserinnen ein offenkundiges Modell fĂŒr Musils ironische Charakteristik vor
Augen gestanden haben, das zugleich ein wichtiger Stichwortgeber fĂŒr seine
AusfĂŒhrungen ĂŒber den GroĂschriftsteller war und das sich in mancher Hin-
sicht von Walther Rathenau, dem zentralen Vorbild fĂŒr Arnheim, unterschied :
In der Zwischenkriegszeit war Musils Kollege, Konkurrent und Inspirations-
quelle Thomas Mann702 â ein sehr erfolgreicher und allgemein anerkannter
Schriftsteller, aber kein Bestseller im engeren Sinn â zum âReprĂ€sentant[en]
der Nationâ703 in der neuen republikanischen Ăffentlichkeit geworden. Wie
kein anderer zeitgenössischer Autor wusste er gemĂ€Ăigte ideologische und
Ă€sthetische Fortschrittlichkeit mit bĂŒrgerlicher Gediegenheit und konser-
vativem Habitus zu verbinden, konnte er den neuen demokratischen Geist
verkörpern704, ohne jedoch in die NĂ€he der politischen und kĂŒnstlerischen
Avantgarde bzw. ihrer radikalen AusprÀgungen und Erscheinungsformen zu
gelangen. Er war eine âGewissenskraftâ der Nation geworden, was Musil ihm
selbst in einer öffentlichen, am 7. Juni 1925 im Berliner Tageblatt abgedruckten
GlĂŒckwunschadresse zum 50. Geburtstag bescheinigt hatte (GW 9, 1716) â
und damit (nach Nietzsche) eben auch eine ânicht zu unterschĂ€tzende Ge-
wissensmachtâ (MoE 429). Mit dem von ihm eingeschlagenen âMittelwegâ in
jeder Hinsicht, der â wie bei Arnheim â stets auf âGanzheitâ zielte705 und den
702 Vgl. dazu und zum Folgenden Corino : Musil â Thomas Mann, bes. S. 25â27. Musils intensive
BeschÀftigung mit dem PhÀnomen Thomas Mann bestÀtigen auch zahlreiche EintrÀge u. a. ins
Arbeitsheft 30 (vgl. Tb 1, 766 u. 807 f.; GW 7, 847 u. 853).
703 Kurzke : Nachwort und Dank, S. 868. Diese Entwicklung hat sicherlich auch mit Manns keines-
wegs gering zu schĂ€tzender Wandlung âzu einem markanten Verteidiger der Weimarer Repu-
blikâ zu tun sowie mit seiner âsich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg vollziehende[n]
Internationalisierungâ (S. 872 f.).
704 In den nachgelassenen Aphorismen Aus einem Rapial bezeichnet Musil die Frage âIst Tho-
mas Mann ein groĂer Dichter ?â vielsagend als einen âgroĂe[n] Teil der Frage : ist Demokratie
gut ?â. Er beantwortet sie wiederum sarkastisch : âWahrscheinlich : Sie ist gut, obwohl er keiner
istâ (GW 7, 831). Dazu MĂŒller-Funk : Seinesgleichen geschieht, S. 176 : âPolitische âGĂŒteâ und
Ă€sthe tische QualitĂ€t schlieĂen einander, fĂŒr Musil wenigstens, aus. Von der Verwechslung bei-
der lebt der âGroĂschriftstellerâ und sein Essayismus.â
705 In besagter Geburtstagsadresse lobt Musil nicht ohne Ironie an Thomas Mann, dass dessen
Werk âdurch den Besitz [âŠ] vieler widerspruchsvollen Eigenschaften zu erklĂ€renâ sei ; es
zeige, âwie aus WidersprĂŒchen am Ende von selbst ein Ganzes, etwas Unteilbares, Einiges und
Glanzvolles wird, wenn eine zarte Geduld jeden Widerspruch achtsam in die Hand nimmt,
und eine harte Geduld, welche warten kann, keinen zu frĂŒh loslĂ€Ătâ (GW 9, 1716).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208