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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1044
an seine Schwester : â[D]enk an ein wirkliches Kunstwerk : Hast du nie das
GefĂŒhl gehabt, daĂ etwas daran an den brenzlichen Geruch erinnert, der von
einem Messer aufsteigt, das du an einem Stein schleifst ? Es ist ein kosmischer,
meteorischer, gewittriger Geruch, himmlisch unheimlich ! ?â (MoE 960) Ihm
ist es um âein Schaffen von Bildernâ zu tun, âdie mit dem des Lebens nicht
ĂŒbereinstimmenâ (MoE 960). Oder mit anderen Worten, die er wiederum an
Agathe richtet : âEin Gedicht soll doch genau so wenig bloĂ ein Ausnahmezu-
stand sein wie eine Tat der GĂŒte ! Aber wo kommt denn, wenn ich so fragen
darf, der Augenblick der Erhebung im nÀchsten Augenblick hin ? Du liebst
Gedichte, das weiĂ ich : aber was ich sagen will, ist, daĂ man nicht bloĂ den
Feuergeruch in der Nase haben darf, bis er sich verflĂŒchtigt.â (MoE 961) Misst
man Ulrich an den Kriterien, die Musil 1918 in seiner Skizze der Erkenntnis des
Dichters aufgestellt hat721, dann erscheint er durchaus als Dichter â freilich als
einer, der nicht schreibt, bzw. als passiver Dichtertypus.722 Warum er das nicht
tut, ist wohl nur ĂŒber einen kleinen gedanklichen Umweg zu ergrĂŒnden. Bei
seiner Reflexion ĂŒber die HintergrĂŒnde des von ihm konstatierten âĂŒbertriebe-
nen BedĂŒrfnisses zu schreibenâ kommt Ulrich nĂ€mlich auch auf die Rolle des
Lesens zu sprechen :
Vielleicht sieht man das nicht so deutlich am Schreiben selbst, denn da kommt je
nach Talent und Ăbung etwas zustande, das weit ĂŒber seinen Ursprung hinaus-
wÀchst, aber am Lesen ist es ganz unzweideutig kenntlich : beinahe kein Mensch liest
heute noch, jeder benĂŒtzt den Schriftsteller nur, um in der Form von Zustimmung
oder Ablehnung auf eine perverse Weise seinen eigenen ĂberschuĂ an ihm abzustrei-
fen. (MoE 417)
721 Vgl. die Skizze der Erkenntnis des Dichters, wo Musil âden Dichterâ in einer bewussten âEin-
schrĂ€nkungâ als âden in einer bestimmten Weise und auf bestimmtem Gebiete Erkennenden
betrachtetâ und erwĂ€gt : âMan könnte ihn beschreiben als den Menschen, dem die rettungslose
Einsamkeit des Ich in der Welt und zwischen den Menschen am stĂ€rksten zu BewuĂtsein
kommt. Als den Empfindlichen, fĂŒr den nie Recht gesprochen zu werden vermag. Dessen
GemĂŒt auf die imponderabeln GrĂŒnde viel mehr reagiert als auf gewichtige. Der die Cha-
raktere verabscheut, mit jener furchtsamen Ăberlegenheit, die ein Kind vor den ein halbes
Menschenalter frĂŒher sterbenden Erwachsenen voraus hat. Der noch in der Freundschaft und
in der Liebe den Hauch von Antipathie empfindet, der jedes Wesen von den andern fernhÀlt
und das schmerzlich-nichtige Geheimnis der IndividualitÀt ausmacht. Der selbst seine eigenen
Ideale zu hassen vermag, weil sie ihm nicht als die Ziele, sondern als die Verwesungsprodukte
seines Idealismus erscheinen. Dies sind nur einzelne Beispiele und Einzelbeispiele. Ihnen allen
entspricht aber oder vielmehr liegt zugrunde eine bestimmte Erkenntnishaltung und Erkennt-
niserfahrung wie auch die dieser entsprechende Objektswelt.â (GW 8, 1026)
722 Mehr dazu in Heydebrand : Die Reflexionen Ulrichs, S. 78â94.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208