Page - 1064 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 1064 -
Text of the Page - 1064 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1064
Drangsal gibt es im Romantext keinerlei Anhaltspunkte. Von erheblicher Be-
deutung fĂŒr dessen konzeptionelle Gesamtanlage ist hingegen die polemische
GegenĂŒberstellung der beiden ideologisch kontrĂ€ren Propagandisten Hans
Sepp und Feuermaul.
Wie oben im Abschnitt zu Feuermaul schon zitiert wurde, formuliert
Stumm von Bordwehr in einem GesprĂ€ch mit Ulrich reichlich zirkulĂ€r, âdaĂ
die Drangsal so eine Art Pazifistin ist, wahrscheinlich, weil der Feuermaul,
den sie lanciert, Gedichte darĂŒber macht, daĂ der Mensch gut ist. Daran
glauben jetzt viele.â (MoE 976) Ulrich erinnert in diesem Zusammenhang an
die gegenteilige Beobachtung, âdaĂ man in der Aktion jetzt fĂŒr eine Tat ist,
fĂŒr die starke Hand und Ă€hnliches !â (MoE 976) Der General rĂ€umt das zwar
ein, bleibt jedoch bei seiner Darstellung der angeblich drohenden pazifisti-
schen âGefahrâ : âUnd einfluĂreiche Kreise setzen sich halt fĂŒr die Drangsal
ein ; so etwas versteht sie ja ausgezeichnet. Man verlangt von der VaterlÀn-
dischen Aktion eine Handlung der menschlichen GĂŒte.â (MoE 976) Anhand
der hier zum Vorschein kommenden binÀren Konstellation zweier kontrÀrer
âWeltanschauungenâ, die entweder einem âMessias der Dichtungâ oder einem
âMessias der starken Hand fĂŒr das Ganzeâ hinterherlaufen (MoE 520), kristal-
lisieren sich unterschiedliche, ja antagonistische Fraktionen innerhalb der Pa-
rallelaktion heraus. So berichtet Stumm etwa bald darauf von einem Zusam-
menstoĂ Feuermauls, dem âExponent[en] einer Auffassung, daĂ der Mensch
gewissermaĂen ein friedliches und liebevolles Geschöpf sei, mit dem man gut
umgehen muĂ, mit den Exponenten, die ungefĂ€hr das Gegenteil behaupten,
so daĂ man zur Ordnung nach ihnen eine starke Faust braucht und was sonst
noch dazugehörtâ (MoE 1031). Wenig spĂ€ter wird die solcherart skizzierte,
recht schematische Alternative durch eine verbale Konfrontation zwischen
Feuermaul und einem jungen Deutschnationalen veranschaulicht, hinter dem
sich â so jedenfalls die Suggestion des ErzĂ€hlers â offenbar Hans Sepp verbirgt
(vgl. MoE 1011 u. 1033). Darauf wird noch zurĂŒckzukommen sein.
ZunĂ€chst jedoch gilt es zu klĂ€ren, warum in der Parallelaktion âsolcher
Wert auf die Beiziehung des Herrn Feuermaul gelegtâ wurde, wie Sektions-
chef Tuzzi spöttisch fragt, zeige sich doch darin bestenfalls ein âlebendige[r]
Defaitismusâ (MoE 1009 f.). Entsprechendes gilt auch fĂŒr die problematische
âBeiziehungâ völkischer Ideologen. Diesem Einwand widerspricht der Gene-
ral ganz entschieden unter Berufung auf den âZeitgeistâ ; der militĂ€rische Be-
obachter des zivilen Denkens erlÀutert :
Der Zeitgeist hat heute zwei Strömungen. [âŠ] Seine Erlaucht zum Beispiel sagt, man
muĂ eine Parole der Tat ausgeben, das verlange die Zeitentwicklung. Und wirklich
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208