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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1076
nur weil er vom Vorfall insgesamt bestÀtigt worden ist, sondern auch weil die
âExponenten des Zeitgeistesâ, die er beide bis zu einem gewissen Grad ver-
steht, einander zumindest nicht zerfleischt haben. Dieser bescheidene Erfolg
enthebt ihn freilich nicht der ihm von seinem Autor gestellten Aufgabe, die
anthropologische Analyse schonungslos voranzutreiben und nach einer mög-
lichen ErfĂŒllbarkeit der unerfĂŒllten menschlichen BedĂŒrfnisse zu suchen, was
er in einer Art âinnerem Dialogâ auch tut.
Von den Eingebungen der ungewöhnlichen Menschen bis zum völkerverbindenden
Kitsch bildet das, was Ulrich die moralische Phantasie nannte, oder einfacher das
GefĂŒhl, eine einzige, jahrhundertealte GĂ€rung ohne AusgĂ€rung. Ein Wesen ist der
Mensch, das nicht ohne Begeisterung auskommen kann. Und Begeisterung ist der
Zustand, worin alle seine GefĂŒhle und Gedanken den gleichen Geist haben. [âŠ]
Aber die StÀrke einer solchen Begeisterung ist ohne Halt. Dauer gewinnen die Ge-
fĂŒhle und Gedanken nur an einander, in ihrem Ganzen, sie mĂŒssen irgendwie gleich-
gerichtet sein und sich gegenseitig mitreiĂen. Und mit allen Mitteln, mit Rauschmit-
teln, Einbildungen, Suggestion, Glauben, Ăberzeugung, oft auch nur mit Hilfe der
vereinfachenden Wirkung der Dummheit, trachtet ja der Mensch, einen Zustand zu
schaffen, der dem Àhnlich ist. Er glaubt an Ideen, nicht weil sie manchmal wahr sind,
sondern weil er glauben muĂ. Weil er seine Affekte in Ordnung halten muĂ. Weil er
durch eine TĂ€uschung das Loch zwischen seinen LebenswĂ€nden verstopfen muĂ,
durch das seine GefĂŒhle sonst in alle vier Winde gingen. Das Richtige wĂ€re wohl,
statt sich vergÀnglichen ScheinzustÀnden hinzugeben, die Bedingungen der echten
Begeisterung wenigstens zu suchen. Aber obwohl alles in allem die Zahl der Ent-
scheidungen, die vom GefĂŒhl abhĂ€ngen, unendlich viel gröĂer ist als die jener, die
sich mit der blanken Vernunft treffen lassen, und alle die Menschheit bewegenden
Ereignisse aus der Phantasie entstehen, erweisen sich nur die Verstandesfragen ĂŒber-
persönlich geordnet, und fĂŒr das andere ist nichts geschehn, was den Namen einer
gemeinsamen Anstrengung verdiente oder auch nur die Einsicht in ihre verzweifelte
Notwendigkeit andeutete : / UngefÀhr so sprach Ulrich, unter begreiflichen Protesten
des Generals. (MoE 1037)
Angesichts solcher âfundamentalanthropologischenâ bzw. psychologischen
Einsichten erscheinen die erbitterten politischen Auseinandersetzungen und
ideologischen GrabenkĂ€mpfe des frĂŒhen 20. Jahrhunderts aus Ulrichs distan-
zierter Perspektive bloà als selbst kaum erklÀrungsmÀchtiges OberflÀchen-
phĂ€nomen einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft â was keineswegs heiĂt,
dass sie nicht ihrerseits zu brutalen Verwerfungen und Gewaltexzessen fĂŒhren
können :
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208