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Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des
Autors1132
Auf den ersten Blick klingt die erzĂ€hlerische Konzentration auf das âTypi-
scheâ einer Zeit nicht viel anders als entsprechende Formulierungen aus den
damals schon historischen wie auch aus zeitgenössischen Programmschriften
des Realismus104, die hÀufig zugleich ein Verbot des reflektierenden ErzÀhlers
aussprachen.105 Die entscheidende Attribuierung âgeistigâ deutet indes an, dass
es zur kĂŒnstlerischen Gestaltung des âTypischenâ im Sinne Musils einer ge-
steigerten analytischen Durchdringung mit den Mitteln des Intellekts bedarf,
einer ĂŒber die bloĂe âZeitschilderungâ hinausgehenden âDarstellung konstitu-
ierender VerhĂ€ltnisseâ106, welche die scheinbar nur âwirklichkeitsabbildendenâ
realistischen ErzÀhlkonventionen seines Erachtens nicht zu leisten vermögen.
Diese nÀmlich verharrten angesichts der KomplexitÀt der modernen Welt
an der OberflĂ€che des âgespenstischen Geschehensâ107 und neigten aufgrund
ihres vorkritischen Tatsachenbegriffs108 und ihrer Reflexionslosigkeit zu Ver-
klÀrungen und zur Verfestigung von simplen Vorurteilen. Wie sollte etwa mit
ihren Mitteln die aktuelle Bedeutung einer âFormal-Wissenschaftâ berĂŒcksich-
104 Als zeitgenössisches Beispiel vgl. etwa Lukåcs : Es geht um den Realismus [1938], S. 341 : Ne-
ben dem âReichtum der Gestaltenâ fordert LukĂĄcsâ realistische Programmatik âdie tiefe und
richtige Auffassung dauernder, typischer Erscheinungsweisen des menschlichen Lebensâ ein.
Im Mann ohne Eigenschaften (wie ĂŒberhaupt in der âavantgardistischen Literaturâ) vermisst er
hingegen âdas konkret Typischeâ, wie er spĂ€ter ausdrĂŒcklich feststellt ; vgl. LukĂĄcs : Die Gegen-
wartsbedeutung des kritischen Realismus [1957], S. 496.
105 Vgl. dazu Eisele : Realismus-Theorien, S. 43 ; zum Problem des âTypischenâ oder âWahrenâ bzw.
des âessenziellen Wesenskernsâ vgl. ebd., S. 41.
106 So in den EntwĂŒrfen zu einer Vorrede, wo es zur ErzĂ€hlprogrammatik weiter heiĂt : âNicht
aktuell ; sondern eine Schichte weiter unten. Nicht Haut, sondern Gelenke.â (MoE 1938) Ent-
sprechend betont Musil noch in den Notizen zu einem geplanten Nachwort bzw. Zwischen-
vorwort, sein zentrales âDarstellungsobjektâ sei âdas unter der OberflĂ€che Gelegene gewesenâ
(MoE 1941). Zur Problematik der an der OberflÀche verharrenden Geschichte vgl. auch die
romaninterne Diskussion (MoE 359â362).
107 Als âgespenstischesâ Geschehen bezeichnet Musil an anderer Stelle âjenes anonyme Geschling,
jenen [âŠ] GĂŒter- und Geldkreislaufâ der modernen Welt, âwelcher selbst einem Menschen,
der vor Armut aus dem Fenster springt, die GewiĂheit gibt, daĂ er einen wirtschaftlichen Ein-
fluĂ ausĂŒbtâ (GW 7, 603 ; vgl. GW 7, 527). Dagegen meint LukĂĄcs : Die Gegenwartsbedeutung
des kritischen Realismus, S. 476, in seiner harschen Kritik am Musilâschen âAvantgardismusâ,
das âWort âgespenstischââ stehe fĂŒr âeine der wichtigsten Richtungen, die zur mehr oder we-
niger vollstĂ€ndigen Auflösung der Wirklichkeit in den dichterisch gestalteten Welten fĂŒhrtâ.
Dass dieser Einwand wenig stichhaltig ist, sollten die hier angestellten Ăberlegungen zeigen.
Musil ist es nicht um eine âAuflösung der Wirklichkeitâ zu tun, sondern um ihre Kritik, was an-
gesichts ihrer KomplexitÀt in der Moderne andere literarische Verfahrensweisen erfordere, als
sie der herkömmliche Realismus zur VerfĂŒgung gestellt hat. Zur Differenz der Konzeptionen
LukĂĄcsâ und Musils vgl. auch Menges : Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit, S. 12.
108 âDer sogenannte Realismus hat noch nicht den Tatsachenbegriff der Naturwissenschaften.â (M
VI/3/25)
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208