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Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des
Autors1136
sonderes Interesse dem âinneren Menschenâ (GW 8, 1029) gelte, also dem
âseelischenâ Bereich, dem die wissenschaftliche Begrifflichkeit und Suche nach
Regelhaftigkeit (im Sinne von Quantifizierbarkeit) nicht oder zumindest nur
eingeschrÀnkt entsprechen.114 Bereits in seinem ersten Roman Die Verwirrun-
gen des Zöglings Törleà (1906) hatte er wie zahlreiche andere zeitgenössische
Autoren aus der Habsburgermonarchie eine programmatische Ausweitung
des Gegenstandsbereichs erzÀhlender Literatur auf Probleme der Psyche
vollzogen115 und sich so vom Realismus bzw. Naturalismus abgegrenzt, die
um 1900 insbesondere in der norddeutschen und Berliner literarischen Szene
beheimatet waren. In gewisser Hinsicht stand noch Döblins epochemachen-
der Roman Berlin Alexanderplatz (1929) in deren Tradition116 â ein Roman,
den Musil als âunĂŒbertreffliche Menschenschilderungâ (GW 9, 1722) ĂŒbrigens
âganz auĂerordentlichâ (Br 1, 453) schĂ€tzte. Die nachgelassenen Skizzen und
EntwĂŒrfe zum Essay Literat und Literatur liefern fĂŒr dieses ungewöhnlich eu-
phorische Urteil freilich eine bezeichnende BegrĂŒndung. Musil bemerkt darin
nĂ€mlich, dass âDöblin, der zuletzt in seinem Roman âAlexanderplatzâ durch
einen bewundernswerten Realismus ĂŒberrascht hat, in seinen Tendenzen,
die sehr vielfĂ€ltig sind, darĂŒber hinaus geht.â Und erlĂ€uternd fĂŒgt er hinzu :
â[D]as Wort Reproduktion darf [âŠ] nicht dazu verleiten, an ein mechanisches
Verfahren oder eine passive GedÀchtnisleistung zu glauben (wiewohl es das
in FĂ€llen kleiner Art gibt) : wenn zwischen geistig formativer Kraft und Kraft
der Reproduktion geschieden wird, so hat dies nur die Bedeutung, zwei groĂe
Quellen der Dichtung bloĂzulegenâ (M VI/3/63).117 Berlin Alexanderplatz
114 Im Unterschied zum Wissenschaftler sei fĂŒr den Dichter âeine bestimmte Erkenntnishaltung
und bestimmte Erkenntnisabsichtâ charakteristisch, die mit der âentsprechende[n] Objekts-
weltâ einhergehe : Gemeint ist âdas nicht-ratioĂŻde Gebiet [âŠ] der Herrschaft der Ausnahmen
ĂŒber die Regelâ, welches âeine vollkommene Umkehrung der Einstellung des Erkennenden
verlangtâ (GW 8, 1026 u. 1028).
115 Allerdings war sich Musil wohl bewusst, dass er nicht nur in der âStadt Arthur Schnitzlersâ
lebte, sondern sich eben auch âin der Stadt Karl Krausens befand, der das Messer wetzt, wenn
ein andrer Ich sagtâ (GW 8, 1406). Das Interesse am âinneren Menschenâ war dementspre-
chend nicht sein einziges Movens literarischer Anstrengung ; daneben existierte ein dezidiert
soziologisches Gestaltungsziel, wie in der vorliegenden Arbeit deutlich werden sollte.
116 Vgl. zum Kontext auch Döblin : Der Geist des naturalistischen Zeitalters.
117 In seinen EntwĂŒrfen fĂ€hrt Musil fort : Die Dichtung âbietet dabei ein Ă€hnliches Bild wie etwa
die Physik, wo es experimentelle und theoretische Begabungen gibt, die beide gleich notwen-
dig sind, aber sich schon dem Wesen der Sache nach so gut wie nie zu gleichen Teilen in ein
und derselben Person mischen. Das ist der Tatbestand, und darum ist es eine Ăbertreibung
und Einseitigkeit gewesen, wenn von der Vorgeneration in den Zeiten, die sich naturalistisch
und impressionistisch nannten, der Wert der Tatsache, des âmenschlichen Dokumentsâ in den
Vordergrund gestellt worden ist.â Mit Blick auf die Neue Sachlichkeit stellt Musil ausdrĂŒcklich
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208