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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des Autors1150 Ausstattung und seiner privilegierten Stellung innerhalb der Romanstruktur soll in einem abschließenden Kapitel behandelt werden, das die indirekte Selbstobjektivierung des Autors im Medium seines Textes zum Thema hat. Bereits an dieser Stelle sei jedoch ein erstes Fazit erlaubt : Wie gezeigt werden sollte, resultiert die große zeitdiagnostische Kraft des Mann ohne Ei- genschaften zum einen aus seiner im zeitgenössischen Kontext einzigartigen historisch-anthropologischen Konzeption im Sinne des ‚Gestaltlosigkeitstheo- rems‘, das den Abschied von der ‚logozentrischen‘ dialektisch-teleologischen Geschichtsphilosophie besiegelt, zum anderen aus seinem spezifischen essay- istischen ErzĂ€hlverfahren mit dessen besonderem analytischen Vermögen. Beide QualitĂ€ten erweisen sich historisch als Ergebnis von Musils andauern- dem BemĂŒhen, die festgefahrenen Aporien und vorgefundenen Alternativen des zeitgenössischen literarischen Feldes produktiv zu ĂŒberwinden – wobei er sich erklĂ€rtermaßen mehr auf die Aufhebung des ideologisch-konzeptionellen als des erzĂ€hltechnischen Status quo konzentriert.171 Folgt man dennoch die- ser Deutung, dann besteht die „radikale Besonderheit“ Musils, „dasjenige, was seinem Werk einen unvergleichbaren Wert verleiht“, in struktureller Analo- gie zu der von Bourdieu analysierten historischen Leistung Flauberts darin, 171 Deshalb kann Becker (ebd, S. 152–160) auch den Vorwurf „der Ă€sthetischen Konventionali- tĂ€t“ (S. 153) erheben : Musil werfe „einen konventionellen Blick auf die urbane Wirklichkeit“ (S. 155), erfinde mit dem Chronotopos ‚Kakanien‘ ein Land, „das kontrĂ€r zu der Entwick- lung moderner Staaten und StĂ€dte im Vergangenen beheimatet“ sei (S. 158), ja „schreibe sich mehr und mehr in das, wenn auch variierte, so doch traditionelle Modell des Entwicklungs- und Bildungsromans hinein, schreibe sich vom Großstadtroman weg“ und „wende sich von der Masse ab und hin zum Subjekt“ (S. 159) ; sein Protagonist Ulrich verharre „stets in einer RĂŒckzugsposition“ (S. 156), betreibe „die Suche nach IdentitĂ€t und den auch erzĂ€hlerischen Prozess der IdentitĂ€tsfindung“ (S. 159). Letztlich verbinde Musil „den Schreibprozess doch mit der Rekonstruktion und Rettung des Individuums“ und mache sich daran, „jenes Subjekt wiederzuentdecken und zu rekonstruieren, das im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert und vom bĂŒrgerlichen Zeitalter zur modernen Massenzivilisation verloren gegangen ist“ (S. 159). Den Hintergrund dieser recht einsinnigen Fundamentalkritik, die die Ergebnisse der Forschung etwa hinsichtlich des parodistischen VerhĂ€ltnisses des Mann ohne Eigenschaften zum Gattungs- muster des Bildungsromans (vgl. etwa Honnef-Becker : „Ulrich lĂ€chelte“, S. 11–16) großzĂŒ- gig ignoriert, bildet eine am Berliner literarischen Paradigma (insbesondere an Döblin, dessen archaisierend-mythisierende Tendenzen freilich unterschlagen werden) entwickelte teleologi- sche Fortschrittsideologie. Becker vertritt ein naiv-optimistisches Modell von ‚Moderne‘ und wittert in jeder Form von Zivilisationskritik gleich „kulturkonservative[ ] Tendenzen“ (S. 159), weshalb Musils Roman wenig mehr „als eine wehmĂŒtige Bestandsaufnahme einer untergegan- genen Welt mit den erzĂ€hlerischen Mitteln des 19. Jahrhunderts“ (S. 160) sein darf. Dass sich die programmatisch ambivalenten Gedankenfiguren Musils einer solchen binĂ€ren Schematik verweigern, indem sie etwa dem Unmodernen in der Moderne oder dem Undemokratischen in der Massengesellschaft nachspĂŒren, macht sie noch lange nicht konventionell.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
FWF-E-Book-Library
Title
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Subtitle
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Author
Norbert Christian Wolf
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2011
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78740-2
Size
15.5 x 23.0 cm
Pages
1224
Keywords
Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
Category
Geisteswissenschaften

Table of contents

  1. Vorbemerkung 9
  2. Einleitung 11
    1. 1. Vom Scheitern eines Großkritikers : Aporien der Literaturkritik 11
    2. 2. Die MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung 20
  3. TEIL I : GRUNDLEGUNG
    1. 1. Grundlagen der Untersuchung 43
      1. 1.1 Vorstellung der Methode : Bourdieus Sozioanalyse literarischer Texte 43
      2. 1.2 Methodologische EinwÀnde : Kritik der Sozioanalyse 58
    2. 2. Grundlagen der Poetik Musils 64
      1. 2.1 Der Mensch ohne Eigenschaften : ‚Gestaltlosigkeit‘ als ‚negative‘ Anthropologie 64
      2. 2.2 ‚Gestaltlosigkeit‘ und Romantext als Gesellschaftskonstruktion 80
    3. Gesellschaft im Roman 82
    4. Roman als Konstruktion 101
    5. Da capo : Angemessenheit und Vorgehensweise der Sozioanalyse 124
      1. 2.3 Medienkonkurrenz : Essayistisches vs. filmisches ErzÀhlen (Musil kontra Balåzs) 129
    6. 3. Grundbegriffe des Romankonzepts 165
      1. 3.1 Eigenschaftslosigkeit 165
      2. 3.2 Möglichkeitssinn und Essayismus 199
  4. TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
    1. 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
      1. 1.1 SelbstreferenzialitĂ€t und Außenreferenz : Das Eingangskapitel 261
      2. 1.2 Ein Land ohne Eigenschaften – Kakanien als Modell 282
      3. 1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften 300
    2. 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
      1. 2.1 MĂ€nner 334
    3. Erben und Enterbte 344
    4. Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
    5. Mann mit Eigenschaften 378
    6. Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
    7. Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
    8. Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
    9. Aufsteiger und Gebremste 482
    10. Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
    11. Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
    12. Terroristen und Propheten 548
    13. Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
    14. eingast, Faschist und Schwerenöter 584
    15. Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
    16. Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
      1. 2.2 Frauen 635
    17. Gefallene Geliebte 643
    18. Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
    19. Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
    20. Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
    21. Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
    22. Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
    23. Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
    24. Angepasste und Dissidentinnen 708
    25. Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
    26. Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
    27. 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
      1. 3.1 Gemischtgeschlechtliche Konstellationen : MĂ€nner und Frauen im 20. Jahrhundert 771
    28. Ehen in der Krise 781
    29. Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die „TrĂ€ger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
    30. Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
    31. Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
    32. Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
    33. Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
    34. Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
    35. Liebesversuche jenseits der Ehe 885
    36. Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
    37. Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
    38. Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
    39. Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
    40. 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
    41. Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
    42. Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
    43. Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
    44. Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
    45. Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
    46. BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
  5. BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
  6. TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
    1. 1. Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1099
      1. 1.1 ‚Negative‘ Anthropologie als literaturpolitischer Einsatz 1101
      2. 1.2 Poetik des Essayismus – Musils vielfacher Bruch 1130
    2. 2. Autor und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse 1152
  7. Literaturverzeichnis 1169
  8. Musil-Texte 1169
  9. Andere Quellen 1169
  10. Nachschlagewerke 1176
  11. Allgemeine Forschungsliteratur 1176
  12. SekundÀrliteratur zu Musil 1193
  13. Register 1208
    1. 1. Personen 1208
    2. 2. Literarische Figuren 1214
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