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Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des
Autors1150
Ausstattung und seiner privilegierten Stellung innerhalb der Romanstruktur
soll in einem abschlieĂenden Kapitel behandelt werden, das die indirekte
Selbstobjektivierung des Autors im Medium seines Textes zum Thema hat.
Bereits an dieser Stelle sei jedoch ein erstes Fazit erlaubt : Wie gezeigt
werden sollte, resultiert die groĂe zeitdiagnostische Kraft des Mann ohne Ei-
genschaften zum einen aus seiner im zeitgenössischen Kontext einzigartigen
historisch-anthropologischen Konzeption im Sinne des âGestaltlosigkeitstheo-
remsâ, das den Abschied von der âlogozentrischenâ dialektisch-teleologischen
Geschichtsphilosophie besiegelt, zum anderen aus seinem spezifischen essay-
istischen ErzÀhlverfahren mit dessen besonderem analytischen Vermögen.
Beide QualitÀten erweisen sich historisch als Ergebnis von Musils andauern-
dem BemĂŒhen, die festgefahrenen Aporien und vorgefundenen Alternativen
des zeitgenössischen literarischen Feldes produktiv zu ĂŒberwinden â wobei er
sich erklĂ€rtermaĂen mehr auf die Aufhebung des ideologisch-konzeptionellen
als des erzÀhltechnischen Status quo konzentriert.171 Folgt man dennoch die-
ser Deutung, dann besteht die âradikale Besonderheitâ Musils, âdasjenige, was
seinem Werk einen unvergleichbaren Wert verleihtâ, in struktureller Analo-
gie zu der von Bourdieu analysierten historischen Leistung Flauberts darin,
171 Deshalb kann Becker (ebd, S. 152â160) auch den Vorwurf âder Ă€sthetischen Konventionali-
tĂ€tâ (S. 153) erheben : Musil werfe âeinen konventionellen Blick auf die urbane Wirklichkeitâ
(S. 155), erfinde mit dem Chronotopos âKakanienâ ein Land, âdas kontrĂ€r zu der Entwick-
lung moderner Staaten und StĂ€dte im Vergangenen beheimatetâ sei (S. 158), ja âschreibe sich
mehr und mehr in das, wenn auch variierte, so doch traditionelle Modell des Entwicklungs-
und Bildungsromans hinein, schreibe sich vom GroĂstadtroman wegâ und âwende sich von
der Masse ab und hin zum Subjektâ (S. 159) ; sein Protagonist Ulrich verharre âstets in einer
RĂŒckzugspositionâ (S. 156), betreibe âdie Suche nach IdentitĂ€t und den auch erzĂ€hlerischen
Prozess der IdentitĂ€tsfindungâ (S. 159). Letztlich verbinde Musil âden Schreibprozess doch
mit der Rekonstruktion und Rettung des Individuumsâ und mache sich daran, âjenes Subjekt
wiederzuentdecken und zu rekonstruieren, das im Ăbergang vom 19. ins 20. Jahrhundert und
vom bĂŒrgerlichen Zeitalter zur modernen Massenzivilisation verloren gegangen istâ (S. 159).
Den Hintergrund dieser recht einsinnigen Fundamentalkritik, die die Ergebnisse der Forschung
etwa hinsichtlich des parodistischen VerhÀltnisses des Mann ohne Eigenschaften zum Gattungs-
muster des Bildungsromans (vgl. etwa Honnef-Becker : âUlrich lĂ€chelteâ, S. 11â16) groĂzĂŒ-
gig ignoriert, bildet eine am Berliner literarischen Paradigma (insbesondere an Döblin, dessen
archaisierend-mythisierende Tendenzen freilich unterschlagen werden) entwickelte teleologi-
sche Fortschrittsideologie. Becker vertritt ein naiv-optimistisches Modell von âModerneâ und
wittert in jeder Form von Zivilisationskritik gleich âkulturkonservative[ ] Tendenzenâ (S. 159),
weshalb Musils Roman wenig mehr âals eine wehmĂŒtige Bestandsaufnahme einer untergegan-
genen Welt mit den erzĂ€hlerischen Mitteln des 19. Jahrhundertsâ (S. 160) sein darf. Dass sich
die programmatisch ambivalenten Gedankenfiguren Musils einer solchen binÀren Schematik
verweigern, indem sie etwa dem Unmodernen in der Moderne oder dem Undemokratischen
in der Massengesellschaft nachspĂŒren, macht sie noch lange nicht konventionell.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208