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1160 Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des Autors
âsinnfĂ€lligâ mit âedlen Eigenschaftenâ ausgestattet (MoE 93 ; vgl. auch MoE
285), darĂŒber hinaus auch mit âvorzĂŒgliche[n] Nervenâ (MoE 27) als weiterem
wĂŒnschenswerten Charakteristikum, wodurch der nach ihm benannte Roman
zwar dem psychotechnisch informierten ErzÀhlprogramm und dessen Forde-
rung nach einem attraktiven Identifikationsangebot entspricht29, sich gleich-
zeitig aber in einer dem Autor selbst wohl kaum bewussten Ironie dem eher
trivialen Typus jener von Freud schon 1908 erwĂ€hnten âegozentrischen ErzĂ€h-
lungenâ annĂ€hert, in denen âsich stets alle Frauen des Romans in den Helden
verliebenâ.30 Musils mĂ€nnlicher Protagonist ist nur deshalb vor den Triviali-
tĂ€ten eines x-beliebigen SchĂŒrzenjĂ€gerschicksals gefeit, weil er âmit der Zeitâ
eine âAbneigungâ gegen jene allein von der âWollustâ geprĂ€gte âArt Liebeâ
sowie schlieĂlich auch gegen âseinen eigenen Körperâ entwickelt, âder das
Zustandekommen solcher verkehrten Verbindungen immer begĂŒnstigt hatte,
indem er den Frauen eine gangbare MĂ€nnlichkeit vorspiegelte, fĂŒr die Ulrich
zu viel Geist und innere WidersprĂŒche besaĂâ (MoE 285). Es sind also allein
seine IntellektualitÀt und psychische KomplexitÀt, die ihn vor den Untiefen sei-
ner enormen erotischen Wirkung bewahren. Indem Musil den Mann ohne Ei-
genschaften auch körperlich mit hohem Kapital ausstattet, erweitert er dessen
Möglichkeiten im Feld der Macht ; diese werden im Verlauf der Geschichte
aber auf bezeichnende Weise immer weniger genutzt, weil Ulrich seine âEi-
genschaftslosigkeitâ im Sinne sozialer Indetermination programmatisch auf-
Genauer ausgefĂŒhrt finden sich Aussehen und problematische Wirkung dieser Idealphysiogno-
mie in der nachgelassenen Notiz âWie sieht Anders aus ?â, wo es heiĂt : âSeine hohe breite Brust
bildete das EntzĂŒcken jedes Schneiders ; die Stoffe legen sich an ihn. [âŠ] Die Figur griechisch,
aber mit stĂ€rkeren Muskeln ; und die Muskeln zylindrisch und konischâ. In der Folge erlĂ€utert
Musil, wieso diese Informationen â[a]m besten wohl beim RĂŒckfall nach der RĂŒckkehrâ aus der
geschwisterlichen Zweisamkeit in die ErzĂ€hlung zu integrieren seien : âDas wĂ€re nicht erwĂ€h-
nenswert, wenn daran nicht Schicksal hinge. Denn selbstverstÀndlich hatte er jeden Erfolg bei
Frauen, den er wollte, aber bei Frauen einer bestimmten Art viel rascher. Frauen, die das BedĂŒrf-
nis haben, ihre Wange an eine starke MĂ€nnerbrust zu lehnen. [âŠ] AnstĂ€ndigen und sentimen-
talen Frauen im allgemeinen ; guten, schlichten, geraden Frauen. Sein Schicksal war dadurch
ĂŒberlastet mit solchen Erlebnissen. Erstens lernt er dadurch die AnstĂ€ndigkeit in ihrer SchwĂ€che
kennen. Zweitens graut ihm vor diesem wilden Geschmack, den er auslöst ; geliebt zu werden,
weil man nicht umspannt werden kann ; Atavismus. In seinem Gesicht ist gar nichts Exotisches,
HĂ€Ăliches, die Phantasie Verderbendes. Reiches Haar, regelmĂ€Ăiger germanisch-slawischer
Mischschnitt. So ist sehr gut zu verstehn, daĂ er sich nach antimoralischen Erlebnissen sehnt,
daà er die Gesundheit und gerade Schönheit verachtet. Und auch, daà ihn Agathe fesselt, die
nicht von andrer Art ist als er. Er verachtet aber von da her auch alle Arten von Illusionen, da er
an einer gesehn hat, wie leicht sie entstehn.â (Tb 2, 1102 ; M VII/10/2)
29 Vgl. den Abschnitt Roman als Konstruktion in Kap. I.2.2.
30 Freud : Der Dichter und das Phantasieren, S. 220.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208