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18 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
die österreichische Staatsbürgerschaft und die damit verbundenen Personenrechte
erwerben«.32 »Jeder«, das bedeutete bei Zeiller : unabhängig von Stand, Herkunft,
Geschlecht und Religion. Staatsbürgerschaft erweist sich im reform-absolutistischen
Österreich als ein Begriff, der sich gegen ständische Ungleichheit, Adelsvorherrschaft
und jeden Partikularismus richtete, nicht aber gegen Unselbstständige, Frauen oder
Fremde an sich – wie es die Theorie der Staatsbürgerschaft seit Rousseau und Kant
evoziert33 –, und auch nicht gegen Juden, sofern sich diese den aufklärerischen Vor-
stellungen des josephinischen Etatismus unterwarfen.34
Ein solcher Etatismus spiegelt sich etwa in den verschiedenen Toleranzpatenten für
die österreichischen Juden seit 1781. Diese wurden und werden als Meilensteine auf
dem Weg zu einer gleichberechtigten Staatsbürgerschaft gewertet.35 So drückte der
preußische Regierungsrat Christian Wilhelm von Dohm nach Erscheinen der ersten
Toleranzpatente seine Genugtuung darüber aus, »dass die Juden in den k. k. Staaten
in die Rechte der übrigen Bürger eingesetzt werden«.36 In seiner epochemachenden
Schrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« hatte Dohm den »verderbten«
Zustand der Juden »als Menschen und Bürger« nicht diesen selbst angelastet, sondern
»der drückenden Verfassung, in der sie noch jetzt in den meisten Staaten« lebten, und
die Regierungen aller Staaten aufgerufen, »die Juden zu dieser Gleichheit (mit allen
Bürgern), zu dem Glück und der Nutzbarkeit, deren auch sie fähig sind, zu leiten.«37
Doch zu gleichberechtigten Staatsbürgern – wie sie etwa Protestanten mit dem To-
leranzpatent vom 13. Oktober 1781 wurden – wurden die Juden noch lange nicht.
Zwar wurde wiederholt – und besonders in der Einleitung zum Patent für die galizi-
schen Juden vom Mai 1789 – der Grundsatz betont, dass sie »in Rechten sowohl als
32 Franz von Zeiller : Vortrag zur Einleitung in das bürgerliche Gesetzbuch vor der Hofkommission in
Gesetzessachen vom 5. Juli 1810, Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Österreichisches Verwal-
tungsarchiv, im Folgenden zitiert als : AVA, Bestand : Oberste Justiz, Fasc. ABGB, aus 1810, S. 23.
33 So hatte Kant »alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb,
sondern nach der Verfügung anderer genötigt ist, seine Existenz (…) zu erhalten«, explizit aus der
Staatsbürgerschaft ausgeschlossen, da jene der bürgerlichen Persönlichkeit entbehrten, ihre Existenz
daher gleichsam nur inhärent sei. Immanuel Kant : Die Metaphysik der Sitten, in : Wilhelm Wei-
schedel (Hg.) : Werkausgabe, Bd. VIII (Frankfurt/Main 1982), S. 433.
34 Vgl. Burger, Begriff der österreichischen Staatsbürgerschaft, S. 217.
35 Hans Tietze : Die Juden Wiens [Wien/Leipzig 1933] (Nachdruck : Wien 1987), S. 117.
36 Christian Konrad Wilhelm von Dohm : Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Nachschrift
[1781], Nachdruck : (Hildesheim/New York 1973), S. 152f. Auch Jacob Katz hebt hervor, dass
Österreich das erste Land Europas gewesen sei, »das im Toleranzedikt Joseph II. 1782 das Recht
der Juden auf Staatsbürgerschaft anerkannte«. Jacob Katz : Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der
Antisemitismus 1700–1933 (München 1989), S. 217.
37 Dohm, Bürgerliche Verbesserung, S. 148. Eine gründliche Analyse der Dohmschen Schrift findet
sich in : Klaus L. Berghahn : Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung
(Köln/Weimar/Wien 2000), S. 127.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271