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28 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
Sinn der neuen Verordnung, die Zahl der Juden »weder in Wien noch überhaupt in
Unseren Staaten zu vergrößern, oder fremde ohne wichtige Ursachen und besondere
für sie sprechende Verdienste herein zu ziehen«.77 Überdies sollte für die Gewährung
des Aufenthalts ein hohes »Toleranzgeld« eingehoben werden.78 Ausdrücklich wurde
die Toleranz auf den »Hausvater«, dessen Frau und die in seiner Versorgung stehen-
den Kinder beschränkt. Die Ansiedlung von Juden auf dem Land blieb ausschließ-
lich wohlhabenden Fabrikinhabern vorbehalten.79 Dennoch öffnete das Patent den
Juden viele bisher verschlossene Bereiche : Schule und Universität sollten ihnen offen
stehen, alle sichtbaren Merkmale der Unterscheidung waren aufgehoben, ebenso die
entehrende Leibmaut (eine Kopfsteuer). Insbesondere aber wurde ihnen gestattet,
von nun an »alle Gattungen von Handwerken und Gewerben« bei christlichen Meis-
tern zu erlernen (ohne damit allerdings das »Bürger- und Meisterrecht« zu erlangen).
Zahlreiche weitere Verordnungen Josephs II., u. a. das Gebot, einen bestimmten Fa-
miliennamen und einen deutschen Vornamen zu führen (1787), die Heranziehung
von Juden zum Militärdienst (1788)80, die Erlaubnis, nach Absolvierung der Studien
auch die Doktorwürde in den medizinischen und juridischen Fächern zu erlangen
(1782) sowie die Erlaubnis zum Kauf von Staatsgütern (1789) ließen die tolerierten
Juden, wie überzeugte Aufklärer meinten, »beinahe zu Vollbürgern« werden81, al-
lerdings um den hohen Preis der Aufgabe ihrer spezifisch jüdischen Identität und
Lebensweise, d. h. Emanzipation von der Religion wurde zunehmend zur Bedingung
für Teilnahme an Staat und Gesellschaft.82 Wird heute das »antijüdische Potential«
schen Dekret vom 17. Juni 1778 die Eröffnung und Erhaltung einer Synagoge gestattet worden war.
Siehe dazu : Ludwig August Frankl : Zur Geschichte der Juden in Wien (Wien 1853), S. 32.
77 Zit. nach : Klueting : Josephinismus, S. 275f.
78 Die Toleranzsteuer betrug zwischen 20 und 200 Gulden pro Familie. Voraussetzung für den Erhalt
der Toleranz in Wien war (ab 1786) der Nachweis eines Vermögens von 10 000, ab 1807 sogar
60 000 Gulden und/oder die Errichtung einer Fabrik oder die Erlangung des k. k. Großhandels-
privilegiums. Vgl. Ernst Mischler/Josef Ulbrich (Hg.) : Österreichisches Staatswörterbuch. Hand-
buch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes, Bd. 2 (Wien 1906), Stichwort : Die Juden,
S. 950. Siehe dazu auch : Ludwig Bato, Die Juden im alten Wien (Wien 1928), S. 124.
79 Vgl. Staudinger, »Gantze Dörffer voll Juden«, S. 11.
80 Am 18. Februar 1788 entschied Joseph II., dass »die Juden auch zu dem Militärstande tauglich«
seien. Diese zuerst in Galizien und nur für den Fuhrdienst kundgemachte Entscheidung wurde
am 4. Juni 1788, auf alle anderen Kronländer ausgedehnt. Bald darauf durften Juden auch in der
Infanterie dienen, und in den Napoleonischen Kriegen fielen alle Beschränkungen des Kriegsdiens-
tes für Juden. Vgl. Erwin A. Schmidl : Juden in der k.(u.)k. Armee 1788–1918, in : (Studia Judaica
Austriaca Bd. 11, Eisenstadt 1989), S. 35ff.
81 Vgl. Tietze, Wiener Juden, S. 118. Dazu auch : Julius H. Schoeps : »Du Doppelgänger, Du bleicher
Geselle …« Deutsch-jüdische Erfahrungen im Spiegel dreier Jahrhunderte 1700–2000 (Berlin/Wien
2004), S. 101.
82 Vgl. Andreas Gotzmann, Eigenheit und Einheit. Modernisierungsdiskurse des deutschen Judentums
der Emanzipationszeit (Leiden/Boston/Köln 2002), S. 216.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271