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46 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
»unersättlicher Gewinnsucht« gewarnt und die oberste Behörde dazu auffordert wird,
»dieser Gattung Leute, die wegen ihrer prekären Existenz in dieser Hauptstadt nicht
einmal als wahre Untertanen anzusehen sind, dennoch aber auf gleichen Schutz und
eben dieselben Rechte Anspruch machen, die nötigen Schranken« zu setzen, repli-
ziert die Hofkanzlei trocken, »dass 131 Familien, die, wenn man 10 Personen auf
eine durchschnittliche rechnet, zwischen 1300 und 1400 Seelen ausmachen, für die
Central- und Hauptstadt der Monarchie und für eine christliche Popularität von
beinahe 300 000 Seelen, noch keine besondere der Aufmerksamkeit würdige Zahl
sei«.145 Dennoch weist auch die Hofkanzlei immer wieder darauf hin, dass »die hie-
sige Toleranz der Juden eine bloße Gnadensache« und »die Gestattung ihres Aufent-
haltes immer nur zeitlich und prekär« sei.146 Dass dieser prekäre Status auch für die
wohlhabendsten Familien galt, belegt die Geschichte des Hauses Rothschild, deren
Angehörige trotz ihrer Funktionen als Bankiers des Hauses Habsburg, als Diploma-
ten und Vermittler, Bauherren, Schiffseigner (Österreichische Lloyd) und Finanziers
wichtiger Eisenbahnprojekte die längste Zeit als Fremde in Wien leben mussten. So
residierte Salomon Rothschild, der Begründer des österreichischen Hauses Roth-
schild, Vertrauter Metternichs (und Vermittler im delikaten diplomatischen Ge-
schäft der Eheanbahnung zwischen Napoleon und Erzherzogin Marie Louise) bei
seinen Aufenthalten in Wien als Gast im Hotel »Zum Römischen Kaiser«. Selbst der
Ankauf eines entlegenen Rittergutes in Mähren scheiterte zunächst am Widerstand
des mährischen Adels. Erst 1843 erhielt er die kaiserliche Genehmigung, vererbba-
ren ländlichen Grundbesitz in Mähren und Schlesien zu erwerben.147
Ganz besonders prekär war der Status der Hinterbliebenen eines verstorbenen
Tolerierten, deren Behandlung und fallweise Abschiebung zu zahllosen Beschwer-
den führte. Als die Hofkanzlei im Jahr 1807 noch einmal die Grundsätze über die
Behandlung der Angehörigen verstorbener Tolerierter in Wien kundmachte und da-
bei zwar empfahl, »gegen die hinterlassenen Witwen und Kinder nicht mit zu gro-
ßer Strenge« zu verfahren, aber dennoch darauf beharrte, »dass die hiesige Toleranz
eine bloße Gnadensache sei, worauf keine jüdische Familie einen Anspruch« habe148,
blieb vielen Juden und Jüdinnen – wollten sie nicht riskieren, abgeschoben zu wer-
den
– nur mehr die Taufe.
145 AVA Inneres, Hofkanzlei IV T 1, Nr. 32 aus Juli 1807.
146 Ebenda.
147 Frederic Morton : Die Rothschilds. Porträt einer Dynastie (Wien/München 2004), S.
89, 93 u. 95.
148 AVA Inneres, Hofkanzlei IV T 1, ohne Zahl, aus Mai 1807.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271