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Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 107
die »hoffnungsfrohe Zeit des Bürgerministeriums«, in der Liberalismus und Juden-
tum, Deutschsein und Verfassungstreue beinahe zusammenfielen.365 Kernpunkte
der Politik dieser Regierung waren der Kampf gegen das Konkordat, ein modernes
Ehegesetz, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (auch für Juden) mit dem
Wehrgesetz 1868366 sowie die liberale Schulgesetzgebung. Radikale Veränderungen
im Bereich des Unterrichtswesens, die im Kern auf Reformkonzepte der 1848er Zeit
zurückgingen, wurden nun in rascher Folge umgesetzt. Bereits im Laufe des Jahres
1868 erfolgte der Umbau vom bisherigen Modell einer gemischten staatlich-kirchli-
chen hin zu einer vollständig weltlichen Schulaufsicht.367 So betonte das sogenannte
»Schule-Kirche-Gesetz« die staatliche Schulaufsicht für alle Gegenstände des Unter-
richts mit Ausnahme des Religionsunterrichtes.368 Darüber hinaus sah das Gesetz
die Einrichtung unabhängiger Landes-, Bezirks- und Ortsschulräte vor, in denen die
Vertreter aller Religionsgemeinschaften
– auch der »israelitischen«
– gleichberechtigt
vertreten sein sollten.369
Besonders bemerkenswert ist das böhmische Schulaufsichtsgesetz von 1873, das
vorsah, dass jeweils eigene Ortsschulräte für die Schulen deutscher wie für die Schu-
len tschechischer Unterrichtssprache zu errichten seien. In gleicher Weise wurden
auch die Bezirksschulräte national getrennt. Hier waren Vorstellungen verwirklicht
worden, wie sie von Adolph Fischhof, dem jüdischen Arzt und Haupt der Märzrevo-
lution von 1848, in seiner berühmten Schrift »Österreich und die Bürgschaft seines
Bestandes« entwickelt worden waren.370 Fischhof hatte als Mittel zum nationalen
Frieden ein sogenanntes Kuriatvotum vorgeschlagen.371 Nachdem »das Gebiet der
Schul- und Sprachgesetzgebung«, wie Fischhof befand, »zum Haupttummelplatz
nationaler Leidenschaften und Herrschaftsgelüste« geworden sei, sollte, nach seiner
Vorstellung, die Abstimmung nach getrennten nationalen Kurien in den Landtagen
und in den Vertretungs- und Verwaltungskörpern gemischter Orts- und Bezirks-
gemeinden zur Anwendung kommen.372 Im böhmischen Schulaufsichtsgesetz von
365 Vgl. Stourzh, Age of Emancipation, S. 15
366 1872 dienten bereits 12 471 jüdische Soldaten in der k. u. k. Armee, etwa 1,5 Prozent ; 1902 er-
reichte mit 59 784, oder 3,9 Prozent, ihr Anteil einen Höhepunkt, damit war der jüdische Bevölke-
rungsanteil von 4,6 Prozent schon fast erreicht. Zahlen nach : Schmidl, Juden in der k.(u.)k. Armee,
S. 57.
367 Vgl. Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Band 4 (Wien 1986),
S. 113.
368 Abgedruckt in Engelbrecht, Bildungswesen, S. 553.
369 Burger, Sprachenrecht, S. 41.
370 Vgl. Stourzh, Gleichberechtigung, S. 200f.
371 Vgl. Robert A. Kann : Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, Bd. 2 (Graz/Köln
1964), S. 153f.
372 Adolf Fischhof : Österreich und die Bürgschaft seines Bestandes (Wien 1870), S. 138.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271