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110 Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit
über aus, ob die deutsche Sprache in Galizien überhaupt landesüblich und damit Un-
terrichtssprache sein könne. Das Reichsgericht jedoch befand, dass
– wenn auch nur
an einzelnen Orten – in Galizien die deutsche Sprache landesüblich sei.377 Ebenso
wies das Gericht in seiner Erkenntnisbegründung die Ansicht zurück, die jüdischen
Einwohner Brodys hätten kein Recht, sich zur deutschen Nationalität zu bekennen
und die deutsche Sprache als ihre Sprache zu reklamieren. Nahezu alle jüdischen
Einwohner Brodys, stellte das Gericht fest, bedienten sich der deutschen Sprache als
ihrer »Mutter-, Familien- und Umgangssprache«, und somit könne es den Einwoh-
nern von Brody als österreichische Staatsbürger nicht verwehrt werden, »nicht nur
sich selbst als der deutschen Nationalität angehörig und die deutsche Sprache als ihre
Sprache« zu erklären, sondern auch »für ihre schulpflichtigen Kinder die deutsche
Sprache als Unterrichtssprache zu begehren«.378
Errichtet waren die beiden Volksschulen wegen des anhaltenden Widerstandes
des galizischen Landesschulrats damit aber noch lange nicht. Während die Ruthenen
Lembergs noch fünf Jahre lang auf ihre Volksschule warteten, mussten sich die Juden
Brodys am Ende mit einer privaten, von der jüdischen Kultusgemeinde unterstütz-
ten Volksschule mit Öffentlichkeitsrecht begnügen. Sie wurde gemischtsprachig, mit
deutscher und polnischer Unterrichtssprache eingerichtet.379 Da die galizische Lan-
desregierung nur äußerst schleppend ihren schulpolitischen Verpflichtungen nach-
kam, waren es immer häufiger private Stiftungen, die die Lücken schlossen. Um
die jüdischen Kinder machte sich besonders die 1889 gegründete »Baron Hirsch-
Stiftung« verdient, die im Geiste der jüdischen Aufklärung, der Haskala380, wirkte
und es sich zum Ziel gesetzt hatte, jüdische Kinder zu mündigen Staatsbürgern und
zu »tüchtigen Handwerkern und Landwirten«
– Bereiche, die ihnen zuvor verwehrt
waren – heranzubilden. Die um die Jahrhundertwende existierenden rund zwanzig
Baron Hirsch-Schulen waren säkular ausgerichtet ; die meisten verfügten – wie jene
in Kolomea/Kołomyja – über eine angeschlossene Lehrwerkstatt. Die Unterrichts-
sprache war für die Kinder, deren Muttersprache in Wahrheit meist das Jiddische
war, in der Bukowina die deutsche und in Galizien die polnische. Deutsch wurde
allerdings – was wegen des »Sprachenzwangsverbots« nur an Privatschulen möglich
war
– von der ersten Klasse an obligatorisch gelehrt.381
377 Erkenntnis des Reichsgerichts Nr. 219 vom 12. Juli 1880, zit. nach : Burger, Sprachenrecht, S.
128.
378 Ebenda, siehe auch : Stourzh, Gleichberechtigung, S. 75ff.
379 Vgl. Burger, Sprachenrecht, S. 129. Dazu auch : Kuzmany, Brody, S. 216.
380 Zum Forschungsstand der Haskala siehe : Shmuel Feiner : »Wohl euch, die ihr eurer Gedanken
wegen verfolgt seid !« – Die gegenwärtige Erforschung der Haskala : Kultur der jüdischen Aufklä-
rung in historischer Perspektive. Vorwort zu : Haskala im 18. Jahrhundert. TrumaH. Bd. 16, 2006,
S. 1–17.
381 Vgl. Burger, Sprachenrecht, S. 129f.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271