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118 Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit
dene Herausbildung von einsprachigen nationalen Bildungspyramiden (Ernest Gell-
ner) (eine einsprachige Erziehung von der Volksschule bis zur Universität), wie sie
in Böhmen und Mähren bereits realisiert worden waren, führte nicht nur zu einer
zunehmenden Entfremdung der Nationalitäten, sondern auch zur Zurückdrän-
gung von Mehrsprachigkeit. Da an Nationalität immer mehr materielle Rechte
geknüpft wurden – eigene Schulen, Theater, Universitäten, Presse, Vereine, Wahl-
kataster – musste, um den Besitzstand einer Nation zu wahren, versucht werden,
möglichst deutliche, vermeintlich wissenschaftliche Kriterien zur Bestimmung
und Identifizierung von Nationalität zu finden. Gefordert war jetzt das nationale
Subjekt. Seinem Wesen nach einsprachig, war es geeignet, gewachsene soziale und
kulturelle Bindungen zu zerstören, dazu gehörten auch jene für die Bukowina be-
schriebenen mehrsprachigen Schul- und Unterrichtsformen. Nach dem Vorbild
Böhmens und Mährens wurde der Anteil der gemischtsprachigen Volksschulen
und utraquistischen (zweisprachigen) Gymnasien drastisch verringert. Und die
viersprachigen Volksschulen wurden als »bukowinisches Kuriosum« zur Gänze ab-
geschafft.409
Darüber hinaus wurde in der Spätzeit der Monarchie in den Diskurs über die
Bestimmung von Nationalität der durch Arthur de Gobineau und Houston Stewart
Chamberlain populär gewordene Begriff der Rasse eingefügt. Geschichte wurde jetzt
vornehmlich als Schauplatz von Rassenkämpfen gedeutet. Die neue Weltanschauung
ließ Nationalitätenkonflikte nun nicht länger mehr als Ausdruck des Strebens nach
Gleichberechtigung, nach Teilhabe am Staatsganzen erscheinen, sondern als einen
naturgesetzlichen Prozess, an dessen Ende es nur Sieger und Besiegte geben konnte.
Dieser sich in den späten 1890er-Jahren – es sind dies in Frankreich die Jahre der
Dreyfus-Affäre und in Österreich jene der Badeni-Krise und des Hilsner-Prozesses –
brachten, wie Carl Schorske es genannt hat, den neuen Ton in die Politik, der die
Entfremdung zwischen den Nationalitäten tiefer, den Kampf um den Besitzstand
schärfer werden ließ.410 Schrille nationalistische, antislawische und antisemitische
Töne drohten jenen auch von den österreichischen Juden getragenen Grundkonsens
zu zerreißen, der in gewisser Weise zur Lebensgrundlage der Monarchie geworden
war : die Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationalitäten, die Anerkennung
der Sprache des anderen als zu wahrendes und zu pflegendes Rechtsgut.
409 Vgl. Burger, Bukowina, S. 112.
410 Carl Schorske : Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle (Frankfurt/Main 1982), S. 122.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271