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Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 127
deutschen Umgangssprache bekennende jüdische Bevölkerung auch der deutschen
Wählerklasse zugeschlagen wurde, wobei die Wahlkreiseinteilung derart verändert
wurde, dass im städtischen Bereich der jüdischen Majorität und der deutschen Mi-
norität je ein Mandat gesichert sein sollte. Damit dürfte das Wahlsystem der Bu-
kowina, wie Gerald Stourzh bemerkt, eines der kompliziertesten, wenn nicht das
komplizierteste, in ganz Europa gewesen sein.450
War dem neuen Katasterwahlsystem in Mähren und der Bukowina zumindest
insofern ein Erfolg beschieden, als es im Großen und Ganzen möglich wurde, Land-
tags- bzw. Reichsratswahlen ohne ständigen Nationalitätenhader abzuhalten, so
zeigten sich die Probleme des Ausgleichs in beiden Kronländern schon sehr bald
im sensiblen Bereich des Unterrichtswesens. In Mähren resultierten diese Probleme
insbesondere aus § 20 des mährischen Schulerhaltungsgesetzes, der bestimmte, dass
»in der Regel« nur solche Kinder in eine Volksschule aufgenommen werden dürf-
ten, »welche der Unterrichtssprache mächtig sind«.451 Die Intention der nach ih-
rem Schöpfer, dem alttschechischen Abgeordneten Dr. Václav Perek, sogenannten
Lex Perek zielte darauf, eine Praxis zu unterbinden, die die Tschechen »Kinderfang«
nannten und die darin bestand, in die deutschen Schulen, sofern die Eltern dies
wünschten, auch Kinder aufzunehmen, die die deutsche Sprache nur mangelhaft
oder gar nicht beherrschten. Ein Wahlrecht der Eltern, ihr Kind entweder auf eine
Schule mit deutscher oder mit tschechischer Unterrichtssprache zu schicken, gestand
der Gesetzgeber nur mehr ausnahmsweise und nur dann zu, wenn ein Kind beider
Sprachen mächtig war. Diese äußerst umstrittene Gesetzesbestimmung wurde fünf
Jahre später durch ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs noch verschärft, das
feststellte, dass durch die Sprache eines Kindes auch dessen Nationalität gekennzeich-
net sei. Aus dieser in der österreichischen Gesetzgebung gänzlich neuen Gleichset-
zung von Sprache und Nationalität leitete man nun ein folgenschweres Recht ab : das
»Recht jedes Volksstammes auf seine Angehörigen«.452
Die Gefahren, die in bestimmten Tendenzen der Ausgleichsgesetzgebung lagen,
nämlich das allmähliche Abgehen vom bisher gültigen Prinzip der Option, d. h. eines
subjektiven Bekenntnisprinzips, hin zu einer objektiven Bestimmung von Natio-
nalität, sind nur vereinzelt erkannt worden. Immer mehr wurde die Fähigkeit für
ein öffentliches Amt (etwa das eines Orts- oder Bezirksschulrat) an die Prüfung der
Nationalität gebunden. Auf der Suche nach fassbaren Merkmalen der nationalen Zu-
gehörigkeit sollte es in Zukunft sogar zulässig sein, »Handlungen aus dem privaten,
450 Stourzh, Nationale Ausgleich, S. 49 sowie Gleichberechtigung S. 235–238.
451 Mährisches Landesgesetzblatt Nr. 4 aus 1906. Zur Problematik des Schulausgleichs siehe : Stourzh,
Gleichberechtigung, S. 214–222, sowie : Burger, Verlust der Mehrsprachigkeit, S. 77–89.
452 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs Nr. 7843/A vom 30. Dezember 1910, zit. nach : Burger,
Verlust der Mehrsprachigkeit, S. 86.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271