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Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 151
Von führenden Nationalsozialisten wurden die Nürnberger Gesetze als Staats-
grundgesetze des »Dritten Reiches«, als Teil einer »neuen Verfassung«, gerühmt, mit
denen die Rechtsgrundlage geschaffen worden sei, die »Judenfrage« ein für allemal
zu lösen.538 Die um wissenschaftliche Fundierung ringenden Kommentatoren, Wil-
helm Stuckart und Hans Globke
– sie gehörten zur Elite der deutschen Justiz
–, ver-
weisen auf den Grafen Gobineau, der »die Rassenfrage« als »alle anderen Probleme
der Geschichte« beherrschend erkannte539, auf Houston Stewart Chamberlain, der
in seinem einflussreichen Werk über »die Grundlagen des 19. Jahrhunderts« zur
»Verpflichtung« aufgerufen hatte, die Juden als »fremdes Element in unserer Mitte
zu erkennen«540, auf Alfred Rosenberg, der in seinem »Mythus des 20. Jahrhunderts«
für eine Aussiedlung der Juden plädiert541, und auf Adolf Hitler selbst, für den »der
Jude« seinem Wesen nach der Fremde war und der seine Vorstellungen hinsichtlich
ihrer Ausscheidung aus der Staatsbürgerschaft bereits in »Mein Kampf« dargelegt
hatte.542
Ihre Entstehung verdanken die »Nürnberger Gesetze« keinesfalls dem chaoti-
schen Geschehen rund um den Reichsparteitag von 1935. Auch wenn sie in einer
turbulenten Nacht flüchtig hingeworfen sein mögen, so handelt es sich bei ihren
Mitverfassern, Bernhard Lösener und Wilhelm Stuckart, um in der Geschichte der
Staatsbürgerschaft überaus kenntnisreiche Fachleute, die schon geraume Zeit mit
der Ausarbeitung eines entsprechendes Gesetzes befasst gewesen waren. Die Nürn-
berger Gesetze schufen nicht zuletzt die Synthese von Rassenideologie und natio-
nalsozialistischer Staatslehre. Und sie brachten endlich auch die Adaptierung des
Staatsbürgerschaftsrechts an die nationalsozialistische Weltanschauung. Mit dem
Reichbürgergesetz und dem »Blutschutzgesetz« (deren Einheit immer wieder be-
schworen wurde) sollte »das Eindringen weiteren jüdischen Blutes in den deutschen
Volkskörper für alle Zukunft« verhindert werden. Darüber hinaus aber bedeute-
ten sie auf staatsrechtlichem Gebiet »die bewusste Überwindung des individualis-
tischen Denkens« im liberalen Verfassungsstaat und die »Wiederanerkennung der
organischen Lebensordnung dieser Welt«. Das »neue Reich« sollte kein Rechtsstaat
538 Wilhelm Stuckart/Hans Globke (Hg.) : Kommentar zur deutschen Rassengesetzgebung, Bd. 1.C.,
Erläuterungen zum Reichsbürgergesetz und Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der
Ehre (München/Berlin 1936), S. 47.
539 Arthur de Gobineau : Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen [1853], Bd. 1 (Stuttgart
1922), S. XVI.
540 Houston Stewart Chamberlain : Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 1 (München
1904), S. 329.
541 Alfred Rosenberg : Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestal-
tungskräfte unserer Zeit (München 1930), S. 632.
542 Vgl. Rainer Faupel/Klaus Eschen : Gesetzliches Unrecht in der Zeit des Nationalsozialismus (=
Ver-
öffentlichungen der Potsdamer Juristischen Gesellschaft 3) (Baden-Baden 1997), S. 18.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271