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Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 159
keine Phrase gewesen. Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss
die notwendige Folge sein«.573 In den darauffolgenden Tagen sei der Kreis der Einge-
weihten allmählich ausgeweitet worden. Bis dahin – so die These Gerlachs – sei das
Los der reichsdeutschen Juden (im Gegensatz zu dem der Juden in den besetzten Ge-
bieten, mit deren Vernichtung bereits kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion
begonnen worden war) noch nicht entschieden gewesen.574
Am 18. Dezember – ein weiteres Datum aus Himmlers Dienstkalender – habe
Hitler dem Reichsführer den ausdrücklichen Befehl erteilt, alle Juden »als Partisanen
auszurotten«.575 (Mit Partisanen waren jetzt nicht mehr, wie bisher, solche in den
besetzten Gebieten gemeint, sondern – als imaginierte Teilnehmer im »Weltkrieg« –
Juden als Partisanen im eigenen Land.) Ein weiteres Indiz für die These Gerlachs
ist die Verschiebung der für Anfang Dezember geplanten (Wannsee-)Konferenz um
gleich sechs Wochen auf den 20. Januar 1942. Das Protokoll der Wannsee-Konfe-
renz gilt seit den Nürnberger Prozessen als wichtigstes Beweisstück zum geplanten,
systematischen Genozid an den europäischen Juden.576 In jüngster Zeit wurde das
enigmatische Dokument in seiner Bedeutung allerdings eher herabgestuft. Tatsäch-
lich sei es bei der Wannsee-Konferenz nur mehr um die Einbindung der Spitzen der
Bürokratie gegangen, um »Parallelisierung der Linienführung« (Heydrich), um Ein-
haltung der sprachlichen Codes sowie insbesondere um die Frage der Einbeziehung
der Mischlinge ersten und zweiten Grades und der Juden in privilegierten Ehen –
die eigentliche Entscheidung zur Ermordung der, nach den Berechnungen Adolf
Eichmanns, etwa 11 Millionen Juden (jetzt einschließlich der reichsdeutschen), sei
zu diesem Zeitpunkt längst gefallen gewesen.577
Einen urkundlichen Beweis für seine Theorie legt allerdings auch Gerlach nicht
vor. Auch er vermeidet – und das ist ein Spezifikum der Debatte – den Begriff
573 Elke Fröhlich (Hg.) : Die Tagebücher von Joseph Goebbels (29 Bände), Band 2, Teil II, bearbeitet
von Angela Hermann (Berlin 2004), S. 498f, Eintragung unter dem 13.12.1941.
574 Gerlach, Wannseekonferenz, S. 143.
575 Gerlach, Wannseekonferenz, S. 116.
576 Mark Roseman nennt es »a deeply mysterious document«, the »Rosetta stone of Nazi murder«. Mark
Rosemann : The Villa, the Lake, the Meeting. Wannsee and the Final Solution (London 2002), S.
2.
Dan Diner spricht vom »absoluten Genozid«, im Sinne eines »grundlosen, jenseits von Vernunft
und Selbsterhaltungswillen« geplanten Völkermords. Dan Diner : »Über die Not des Vergleichs.
Über Holocaust, Genozid und andere Massenverbrechen.« Beitrag zur Internationalen Tagung der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften »Diesseits und jenseits des Holocaust. Aus der Ge-
schichte lernen in Gedenkstätten«, am 15. September 2011 in Wien.
577 Gerlach, Wannseekonferenz, S. 125ff. Mark Roseman spricht davon, dass es Heydrich darum ge-
gangen sei, so etwas wie shared complicity zu etablieren, insofern habe sich das Wannsee-Protokoll
für einige der Protagonisten später als Falle erwiesen. Roseman, The Lake, S. 87.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271