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Staatenlosigkeit als Massenschicksal 207
Am 5. August 1928 heiratete Manès Sperber in Wien die ebenfalls aus Galizien
stammende Mirjam Reiter, eine Gefährtin aus der Hashomer-Zeit. Es folgten aus-
gedehnte Reisen in die Sowjetunion, 1931 eine dreimonatige Reise mit Mirjam zum
Moskauer Weltpsychologenkongress, wo er unter anderem mit Nikolaij Bucharin
und Béla Kun zusammentraf. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozia-
listen und der Ausschaltung der Kommunistischen Partei im Deutschen Reich lebte
Sperber – von Abschiebung bedroht – in der Illegalität, wechselte ständig die Woh-
nung, hielt sich zuletzt in der bekannten Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz
auf, wo er, am 15. März 1933, in einer spektakulären Aktion, zusammen mit dem
Journalisten Walter Zadek und dem Schriftsteller Theodor Balk u. a., von der Ge-
stapo in »Schutzhaft« genommen wurde.725 Nach fünf Wochen Einzelhaft, die er
als »Toter im Wartestand« erlebte, in ständiger Angst, ermordet oder auf der Flucht
erschossen zu werden, wurde er am 20. April 1933 nach Intervention des polnischen
Botschafters plötzlich entlassen. (Hintergrund der diplomatischen Demarche : Für
den polnischen Staat galt ein in einer galizischen Gemeinde ausgestellter Heimat-
schein oder Geburtsschein – analog den Bestimmungen des Versailler Vertrages –
noch als Nachweis der polnischen Staatsbürgerschaft. Erst 1938 beschloss Polen ein
Gesetz, mit welchem die im Ausland lebenden polnischen Juden ausgebürgert wur-
den.)
Sperber reiste über Prag nach Wien. Eine Heimkehr wurde es nicht. Zwar waren
nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland Tausende Flücht-
linge nach Österreich geströmt, auch Juden, und gar nicht wenige wurden später
durch den autoritären Ständestaat eingebürgert, doch für den Kommunisten Sperber
war dieser Weg versperrt. Mit seiner Frau reiste er Ende April 1933 nach Zagreb, im
Auftrag der Komintern und betraut mit der Aufgabe des Aufbaus einer kommunisti-
schen Jugendorganisation in Jugoslawien. Ein jugoslawischer Polizeibericht aus die-
ser Zeit bezeichnet Sperber als : »polnischer Jude, um dreißig Jahre alt, Flüchtling aus
Deutschland, Mensch von zweifelhafter Vergangenheit, gibt sich als Professor der
Individualpsychologie aus. Es ist bekannt, dass er in Russland als Lehrer tätig war. Es
wird angeraten den Genannten unter rigorose Bewachung zu stellen«.726
Im Oktober 1934 folgte Manès Sperber wieder einem Ruf der Komintern, dies-
mal nach Frankreich.727 In Paris arbeitete er zusammen mit Arthur Koestler und
Otto Bihalji-Merin am Aufbau des Instituts zum Studium des Faschismus in Frank-
reich INFA (Institut pour l’Etude du Fascisme), einer Art Clearingstelle der Komin-
725 Marcus G. Patka/Mirjana Stancic (Hg.) : Die Analyse der Tyrannis. Manès Sperber 1905–1984,
Katalog zur Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien (Wien 2006), S. 69.
726 Stancic, Manès Sperber, S. 250.
727 Die Abmeldung von der elterlichen Wohnung Lilienbrunngasse 8 erfolgte am 17.10.1934 ; Pass der
Wiener Polizeidirektion No. 2508, s t a a t e n lo s. WStLA, Sperber.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271