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208 Staatenlosigkeit als Massenschicksal
tern. Zugleich beteiligte er sich an den politischen Aktivitäten seines Mentors Willi
Münzenberg, der für die Komintern einen wahren Medienkonzern aufbaute. Nach
zunehmenden Zweifeln und unter dem Eindruck des zweiten Moskauer Schaupro-
zesses verließ Manès Sperber im Oktober 1937 die Kommunistische Partei. Als einen
seiner Gründe gab er an, dass inzwischen viele seiner vertrauten Freunde in den
Gefängnissen der Sowjetunion sich befänden, von deren Unschuld er überzeugt sei.
Den Bruch mit der Partei erlebte er als »Fall ins Nichts« – und als tödliche Gefahr :
»mit allen Fibern fühle ich es, mit meinem ganzen Bewusstsein weiß ich es : es ist das
gefährlichste Jahr meines Lebens. So gefährlich, dass ich nicht weiß, ob ich es über-
leben werde«.728 Einige Monate später, im Herbst 1937, schrieb er den berühmten
Essay »Zur Analyse der Tyrannis« und lieferte damit
– noch vor Hannah Arendt und
Elias Canetti
– ein erstes Modell des Totalitarismus.
Im März 1938 wurde er am Radio Zeuge des Aufmarsches der Massen am Hel-
denplatz, hörte die Heilrufe, erlebte von ferne den Untergang Österreichs. Nach
dem Überfall Hitlers auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges meldete
sich Manès Sperber noch im September 1939 – auch, um der drohenden Internie-
rung zu entgehen – als Freiwilliger bei der französischen Fremdenlegion. Heroisch
war die Zeit in der Legion nicht. In »Wie eine Träne im Ozean« beschrieb er die
Lächerlichkeit der militärischen Übungen, die kümmerliche Ausrüstung, die Ver-
rohung der Sprache, die Langeweile in elenden Quartieren. In dieser Zeit kam es
für Sperber zu einer Wiederbegegnung mit den »Ostjuden«, für die er sich – viele
von ihnen sind Analphabeten oder der französischen Sprache nicht mächtig – als
Lohnbriefschreiber betätigte. Nicht wenige von ihnen hatten sich – staatenlos wie
Sperber – zur Legion verpflichtet, weil sie hofften, nach ihrer Demobilisierung die
im Rekrutierungsgesetz versprochene französische Staatsbürgerschaft zu erhalten.
Erst knapp vor der französischen Kapitulation, im Juni 1940, wurde die Einheit in
Rückzugsgefechte verwickelt. Da es die Statuten der Fremdenlegion verboten, sich
in Gefangenschaft zu begeben, vermied Sperber jeden Schlaf : »I was determined to
kill myself if the moment should arrive that we could no more escape.«729
Nach seiner Demobilisierung am 15. August 1940 in Fuveau, hinter Grenoble,
erfuhr er beim Hilfskomitee für Emigranten in Marseille, dass er sich auf einer Aus-
lieferungsliste der Gestapo befand und es für ihn keine Möglichkeit der Ausreise
aus Frankreich gab. Ein »Danger Visum« für die USA wurde ihm – möglicherweise
aufgrund einer negativen Intervention seines ehemaligen Parteifreundes Hans Sahl
–
ebenfalls verweigert. Seine Demobilisierungsurkunde verhalf ihm immerhin zu Le-
bensmittelmarken und zu einer halblegalen Existenz in der freien Zone Frankreichs.
728 Manès Sperber, Diese Einsamkeit so dicht, ÖLA/ÖNB, NL Teil II/37.
729 Ebenda, ÖLA/ÖNB, NL Teil II/37.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271