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1.3 Auto/Biographische Quellen | 77
über das Schriftliche hinaus auch andere Formen aufweisen kann, ist fließend. Mehr
als üblich, so Wolfgang Hilger, treten im Künstlertagebuch „Text und Bild in ein un-
trennbares, wenn auch von Fall zu Fall sehr verschieden gewichtetes Wechselspiel“130
ein. Skizzenbuch und Tagebuch können ineinander übergehen, ebenso wie das Ta-
gebuch zum bewusst inszenierten Objekt der Kunst werden kann, was die ohnehin
schon breit gestreuten möglichen Funktionen des Tagebuchs noch um eine spezielle
Facette erweitert. 131
Inwiefern die hier untersuchten KünstlerInnen sich der Praxis des Tagebuch-
schreibens verschrieben haben, lässt sich nicht für alle restlos klären. Oskar Ko-
koschka schrieb nach eigener Angabe kein Tagebuch. Auf die hier bereits darge-
stellte mögliche Funktion des Tagebuchs als Erinnerungsstütze verwies er in seiner
Autobiographie, indem er dort anführte:
„[…] muß mir der Leser zugute halten, daß ich mich heute dieser lange vergangenen
Zeiten kaum erinnere, nie Tagebücher geführt habe, keine Briefe aufbewahrte und vor
allem, daß mein immer schwaches Gedächtnis nur ein blasses Echo der Vergangenheit
wiedergibt. Ich bin frischen Eindrücken zugänglicher, denen noch die Würze der Neuig-
keit anhaftet.“132
Von Aloys Wach liegen hingegen mehrere Tagebücher aus verschiedenen Jahren vor,
und auch Alfred Kubin war regelmäßiger Tagebuchschreiber.133 Schwieriger festzu-
stellen ist dies für Erika Giovanna Klien und Margret Bilger, von beiden sind keine
130 Wolfgang Hilger, Tagebücher und Arbeiten zur Zeit, in: Peter Assmann/Peter Kraml (Hg.), Fiktion/
non-fiction. Weltanschauungen zwischen Vorstellung und Realität, Linz, Salzburg 1995, 78–108,
78. Für den Hinweis, dass auch Tagebücher von „Nicht-KünstlerInnen“ über das Textuelle hinaus-
gehen können, danke ich Li Gerhalter. Vgl. Li Gerhalter/Jens Wietschorke, Aus dem Bleistiftgebiet.
Das gezeichnete Tagebuch von Rudolfine Gandlmayr aus den Jahren 1909–1943, in: Susanne Blu-
mesberger/Christine Kanzler/Karin Nusko (Hg.), Mehr als nur Lebensgeschichten. 15 Jahre bio-
grafiA. Eine Festschrift für Ilse Korotin. Wien 2014, 134–158.
131 Vgl. Hilger, Tagebücher und Arbeiten zur Zeit; Verena Kuni, „All of this could be true.“ Das Tage-
buch als Medium der Kunst, in: Theresa Georgen/Carola Muysers (Hg.), Bühnen des Selbst. Zur
Autobiographie in den Künsten des 20. und 21. Jahrhunderts, Kiel 2006, 169–189.
132 Oskar Kokoschka, Mein Leben. Vorwort und dokumentarische Mitarbeit von Remigius Netzer,
Wien 2008 [EA 1971], 188.
133 Kubins Tagebücher wurden in der Rezeption von Leben und Werk des Künstlers bisher kaum be-
achtet. Der Grund dafür ist, dass die ohnehin sehr schwer lesbare Handschrift Kubins in den Ta-
gebuchaufzeichnungen geradezu „hieroglyphisch“ anmutet, eine Lektüre nur mit größter Anstren-
gung und Zeitaufwand möglich ist. Eine umfassende Einbeziehung dieser Quelle war daher auch
im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, Transkription und Auswertung der Tagebücher wären ein
wünschenswertes Projekt.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463