Seite - 163 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente | 163
an die Redaktion des ‚Klessheimer Sendboten‘ – Koh-i-nor 12 = wichtig! - weil patz-weich
und sentimental!!“254
Auf dem Blatt mit dem Titel „Die Begegnung“ (Abb. 12) ist es nicht Wien, son-
dern Amerika, das als mögliche Zukunftsdestination erstmals ins Spiel kommt.
Der kleine Vogel, der sich auf fast allen „Sendboten“ befindet, sitzt auf dem Fuß der
jungen Frau und zwitschert ihr entgegen: „Oh Erika! Oh Erika! So geh doch nach
Amerika“. Auch hier erweist sich der „Klessheimer Sendbote“ als informative auto-
biographische Quelle, zeigt er doch, dass die Möglichkeit, in die USA zu gehen, in
diesen Jahren zumindest schon im Raum stand.
Resümierend
Die „Klessheimer Sendboten“ bieten aufgrund des eingeschränkten Zeithorizonts
nur einen punktuellen Einblick in Erika Giovanna Kliens auto/biographisches Nar-
rativ, lassen somit leider keinen analytischen Blick auf längerfristige Entwicklungen
zu. Dennoch ergeben sich gerade in Bezug auf die „biographischen Formeln“ der
Künstlerbiographik interessante Befunde. Ausgehend vom männlichen Prototyp des
Künstlers war es für Künstlerinnen definitiv schwierig, sich auto/biographisch in die
herrschenden biographischen Künstlerbilder einzuschreiben. Erika Giovanna Klien
versuchte zeitlebens Grenzen zu überschreiten, auch jene, die die vorherrschenden
Geschlechterrollen vorgaben. In den „Sendboten“ präsentierte sie sich als „neue“
Frau der 1920er-Jahre, die sich über Freiheit und Selbstbestimmung definierte. Da-
mit schloss sie nicht nur an ein zeitgenössisches emanzipatorisches Geschlechterbild
an, sondern auch an Künstlerstereotype, die auf antibürgerliche Lebenskonzeptio-
nen aufbauen und Künstlern (Künstlerinnen?) andere Freiräume zur Lebensgestal-
tung zugestehen als sie im bürgerlichen Lebensentwurf vorgesehen waren. Kliens
Sicht von sich als Künstlerin thematisierte sie in klarem Kontrast zum vorherrschen-
den bürgerlich-konservativen Klima im Bereich von Kunst- und Kulturpolitik. An-
knüpfend an bestehende „Künstlerlegenden“ schrieb sie sich in das in der Moderne
präsente Bild des Künstlers als unangepassten Bürgerschreck ein, gleichzeitig aber
auch in jenes der von seiner Umwelt nicht verstandenen und somit einsamen Künst-
lerpersönlichkeit.
254 Erika Giovanna Klien, Klessheimer Sendbote, „Tragisches aus der Zeichenstunde“.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463