Seite - 169 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen | 169
keine besondere Erwähnung im Lebensbericht. Zeitlebens würde Bilger die Stadt
meiden, als „Wandervogel“ zog sie auch während ihrer Wiener Zeit noch regelmäßig
in die Natur. In nur einem knappen Satz drückte sie ihre Distanz zum städtischen
Leben aus: „So blieb ich vom Element der Großstadt und Mode unberührt.“274 Über
die wirtschaftliche Not und Armut, in der sie in Wien lebte, berichtet sie nicht, dass
ihre Wiener Zeit aber keine fröhliche war, zeigt sich in folgender Formulierung:
„Freilich entstanden erst Gebilde [Anm.: aus Holz], die alle voller Trauer waren. Ich
nannte sie Heilige. (Sei es die Unerlöstheit in mir, seien es die kranken Kinder, auch die
Luft der Zeit, die immer überall eindringt.)“275
Die „Unerlöstheit“, die „kranken Kinder“ und die „Luft der Zeit“ – drei Topoi, die
Bilgers Wiener Lebenszeit klar umreißen. Das Narrativ der Unerlöstheit beziehungs-
weise das seiner späteren Auflösung ist das zentrale Motiv der autobiographischen
Darstellung der Künstlerin Bilger. Ihren Weg als Mensch, Frau und Künstlerin su-
chend, so zeigt sich Bilgers Biographie bis in die 1940er. Die von Biograph Frommel
vorgenommene Teilung in eine „erste“ und eine „zweite“ Lebenshälfte entspricht
der von der Künstlerin selbst vorgenommenen Zäsur, wonach sie erst in den 1940er-
Jahren ihren eigenständigen künstlerischen Weg finden und arbeiten konnte.
Der Lebensbericht ist noch nicht an diesem Punkt angelangt: „Das Bewußtsein
mußte erst durch schwerste Erlebnisse geboren werden.“276 So leitete Bilger die Er-
zählung von Schicksalsschlägen ein, die sie Mitte der 1930er-Jahre zu bewältigen
hatte: Nach dem Tod ihrer Mutter heiratete sie im Jahr 1934 den Grazer Schuster
Markus Kastl, von dem sie schwanger war. Sie verlor das Kind schließlich bei der
Geburt, die sie auch selbst beinahe nicht überlebte. Bilger formulierte diese Ge-
schehnisse im Lebensbericht wie folgt:
„Nach dem Krankheitstod der Mutter heiratete ich, wie als Herausforderung an das Ge-
schick, einen Flickschuster. Es blieb dies alles sehr unwirklich. Die Folge war eine Totge-
nisch u.a. gegründeter Verein nach Vorbild der britischen Settlementbewegung, der sich vorzugs-
weise in Arbeiterbezirken karitativ betätigte. Vgl. Elisabeth Malleier, Das Ottakringer Settlement.
Zur Geschichte eines frühen internationalen Sozialprojekts, Wien 2005. Über Bilgers Tätigkeit im
Ottakringer Settlement ist bislang nichts Näheres bekannt.
274 Bilger, Lebensbericht. Zum Stadt-Land-Diskurs bei Bilger vgl. Kapitel 3.2.3.
275 Bilger, Lebensbericht, 26.
276 Bilger, Lebensbericht, 26.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463