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vollzog sich jetzt das Objektivieren des Persönlichen ins Allgemeine – eine Art
Kommunikation“), darauf folgte der Satz:
„Es kam die Zeit, wo ich G.
Franke begegnete (1942). Er hielt, was selten geschah bei einer
Frau, seine Hand über meine Arbeit. Ich fand Freunde. Es erhellte sich.“286
Was hier wie aufeinanderfolgend erscheint, vollzog sich in der Realität mehr oder
weniger parallel: Der Kontakt zum Münchner Kunsthändler Günther Franke ent-
stand etwa zur selben Zeit, in der sie ihre „Holzrisse“ entwickelte und die oben be-
schriebene Veränderung ihres künstlerischen Weges beschritt. Für die mittlerweile
fast 40-jährige Künstlerin begann sich somit um etwa 1942/43 erstmals eine wirk-
liche Perspektive aufzutun –„es erhellte sich“. Interessant erscheint an dieser Stelle
auch die Formulierung Bilgers, eine Förderung durch Franke sei selten „bei einer
Frau“ geschehen. Die sonst kaum von ihr thematisierte Diskriminierung von Frauen
im Kunstbetrieb wurde von Bilger jedenfalls wahrgenommen und an dieser Stelle
auch klar formuliert.287
Nachdem damit eine positive Perspektive angedeutet worden ist, ist der nächste
Satz im Lebensbericht wiederum als Rückschlag zu lesen:
„Umsomehr traf mich, durch Abtrennung Österreichs, das neuerliche Versinken in Ein-
samkeit. Da meldete sich schwere Krankheit, meine Schwester, selbst erst ihren jungen
Mann im Kriege verloren, rief mir zu: Jetzt auszustellen für die Heimkehrenden! Das riß
mich hoch!“288
Es erscheint auf den ersten Blick befremdlich, dass die dem Nationalsozialismus
nicht sonderlich nahestehende Bilger das Kriegsende als „Abtrennung Österreichs“
bezeichnete. Zweifellos hatte Bilger aber – ähnlich wie Kubin – eine intensive be-
rufliche Ausrichtung nach Deutschland, die mit 1945 abgebrochen wurde, hinzu
kommt ihre biographische Verbundenheit mit Deutschland. Die Briefe aus jener
Zeit zeigen, dass Bilger in den ersten Nachkriegsjahren stark mit den wirtschaftli-
286 Bilger, Lebensbericht, 28.
287 Umso bedauerlicher erscheint, dass trotz des intensiven persönlichen Kontakts und der langen
beruflichen Zusammenarbeit Bilger in dem 1970 (also nach Frankes Tod) erschienenen Band über
den Kunsthändler keine Erwähnung findet. In der Publikation befinden sich die Korrespondenzen
mit 48 bei Franke ausgestellten KünstlerInnen (darunter vier Frauen), der Briefwechsel mit Bilger
ist nicht enthalten. Vgl. Doris Schmidt (Hg.), Briefe an Günther Franke. Porträt eines deutschen
Kunsthändlers, Köln 1970.
288 Bilger, Lebensbericht, 28.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463