Seite - 213 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 213
können, mit dem ich meine Finger absichtlich beschmierte. So ging es einige Tage. Dann
hielt ich es nicht mehr aus. Ich ließ mein Bild, Staffelei und Farbkasten stehen und floh aus
dem Hause. [...] Eines Morgens hörte ich vor dem Hotel Geschrei, Türenschlagen, Aufre-
gung. Ich blickte aus dem Fenster. Da stand die Frau aus Vevey in Federhut, Reitrock und
mit einer Reitpeitsche. Sie wollte mich züchtigen und wegführen. Sie forderte, ich sollte
das Porträt, das ich begonnen hatte, zu Ende malen. Ich erschrak heftig und ließ mich
nicht mehr sehen. Bessy [Anm.: Bruce] und den anderen gelang es endlich, die Amazone
zum Rückzug zu bewegen.“114
In die Autobiographie nahm er die Geschichte ebenfalls auf, die Grundingredien-
zien wurden allerdings neu gemischt und aus der sexuell übergriffigen „Madame
Potiphar“ wurde eine leidende „Niobe“115:
„Loos hatte mich in der Villa des Wiener Arztes am See untergebracht. Ich sollte seine Frau
malen, die mit ihrem kleinen Sohn allein geblieben war, um sie davon abzulenken, daß
man ihren Mann in Wien eines sittlichen Vergehens beschuldigt und in Untersuchungs-
haft genommen hatte. Obwohl Loos sie von der Nichtigkeit der Anklage zu überzeugen
suchte, hatte sie die Scheidung eingeleitet.116 Kleinmut und die Angst, falls bei einem Frei-
spruch das Gericht ihr Kind dem Ehemann zusprechen sollte, ließen sie wie ein gehetztes
Tier sich in ihrem Dasein nicht mehr auskennen. Sie hatte schlaflose Nächte und erschien
einmal in meinem Zimmer in einem leichten weißen Gewand in einer Verfassung der
Niobe, der man ihr Junges wegnehmen wolle. Sie zwang mich, die Polizei anzurufen, und
wollte sich in einer Raserei voll Dankbarkeit mir als ihrem Beschützer an den Hals werfen,
wovon ich sie nur mit Mühe abhalten konnte. Ich erinnere mich nur, daß meine Hände
mit Preußisch-blau verschmiert waren, weil ich noch an dem Bild arbeitete. Ich erinnere
mich auch noch, daß ich mich mit einer mir unverständlichen Gleichgültigkeit über die
silberne Decke meines Zimmers wunderte, als ich mich an dem zusammengerollten Bet-
tuch vom Fenster hinunterließ; […] Am nächsten Tag erschien die Frau von der Villa
Karma hoch zu Roß in Reitkleid und Federhut. Ich sah sie wohl, hielt mich aber versteckt.
„Hört die Geschichte, von Frau Potifar, die ungemein erfahren war in allen Liebessachen“. CD-
Booklet Comedian Harmonists, Die großen Erfolge.
114 Oskar Kokoschka, Erste Reise in die Schweiz (1973), in: Heinz Spielmann (Hrsg.), Oskar Ko-
koschka. Das schriftliche Werk. Bd. 2: Erzählungen, Hamburg 1974, 83–88.
115 Aus der griechischen Mythologie kommend steht die Figur der Niobe sinnbildlich für die Mutter,
deren Kinder ihr entrissen und getötet wurden.
116 Kokoschka bringt hier einige Ebenen der komplexen Beziehungsgeschichte durcheinander. Nicht
Friedrich Eckstein, sondern Theodor Beer war – und dies schon Jahre zuvor – wegen eines Sittlich-
keitsdelikts angeklagt worden, der Beer-Prozess stand demnach in keinerlei Zusammenhang mit
dem Sorgerecht für Ecksteins Sohn Percy.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463