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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse248
„unsere Küche sieht nicht küchenmäßig aus – nach österreichischem Begriff – rechts ist
ein Tisch mit Gasrechaud – links ein Tisch mit elektr. Rechaud und elektr. Coffeemaschine
– zwei eingebaute Kästen mit Geschirr und Wäsche – und fließendes kaltes und warmes
Wasser – ich wünschte Du hättest eine so bequeme Küche – liebstes Mamale“216
Neben der Begeisterung für Küchengeräte (die auch zu Objekten ihrer Kunst
wurden) war die Künstlerin auch vom Angebot exotischer Lebensmittel fasziniert,
weniger allerdings von der amerikanischen Konservenkost, wie sie nach einigen
Monaten USA-Aufenthalts im März 1930 der Mutter berichtete:
„bezügl. Essen habe ich eine Krisis durchgemacht – mir war die letzte Zeit immer schlecht
– hier ißt man fast alles aus Conserven und ich kann keine Konserven mehr sehn – […]
– gekochtes Rindfleisch oder Saucefleisch oder Gulasch u.s.w. kennt man hier gar nicht –
auch beim Fleischhauer muß ich immer eine Rede halten – bis er versteht – was ich will
– wenn ich Kalbfleisch für Wienerschnitzel kaufe – ich habe oft Visionen von Schweine-
braten oder Geselchtem mit Kraut und Griesknödel oder Leberknödel“217
Neben den technologischen Unterschieden, die Klien im Bereich von Küche und
Nahrungsmittelversorgung nach Wien vermeldete, waren vor allem Beobachtun-
gen zum Thema des urbanen Verkehrs Gegenstand ihrer Briefe. Die Schnelligkeit
der Metropole, der damit verbundene Lärm und der permanente Zeitdruck sollten
der Künstlerin zunehmend Probleme in ihrem alltäglichen Dasein bereiten, anfangs
aber überwog auch hier die Faszination. Ein besonders eindrückliches Erlebnis
schilderte sie dem Bruder von ihrem Weihnachtsaufenthalt 1929 bei ihrer Schwester
Bertha in Chicago, wo die beiden Frauen in die von Autos erfüllte „Unterwelt“ der
Stadt geraten waren:
„Mein liebes Guntherlein – wir sind beisammen Bertl und ich – in Chicago – das Bild
[Anm.: Abb.
19] habe ich heute von der Statestreet Bridge aus gezeichnet – es ist einer der
schönsten Plätze hier – die rückwärtige Brücke ist die Michigan-Avenue-Bridge und wird
aufgezogen – wenn die Schiffe einfahren – weiter rückwärts ist d. Michigansee – den man
von hier nicht sieht – neben dem Fluß siehst Du die erleuchtete Unterwelt der Autos – das
war heute ein unheimliches Erlebnis – bin mit Bertl durchgegangen – kein Mensch – nur
216 Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Anna Klien, New York 11.12.1929. Dieser Brief ist von seiner Datie-
rung der früheste, der im Nachlass vorliegt. Aufgrund des Inhalts lässt sich aber mit großer Sicher-
heit sagen, dass es sich nicht um den ersten Brief Kliens an die Familie nach ihrer Ankunft in New
York handelt.
217 Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Anna Klien, New York 30.3.1930.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463