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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse252
Im selben Brief berichtete sie von ihrer neuen Anstellung in der New Yorker
„Spence School“224 und wiederum sehr detailliert von den Wegen, die sie dafür unter
großem Zeitdruck quer durch die Stadt zurückzulegen hatte:
„seit letzter Woche Mittwoch unterrichte ich ‚uptown‘ im elegantesten Viertel von N.Y. in
der elegantesten Schule (keine reichen Juden – nur reiche adelige englische Familien) die
‚Spence‘schule – Ecke 91. Straße – 5. Avenue – Centralpark – zwei Lehrerinnen und die
Directrice für Erziehung in der Spence-Schule sind seit einiger Zeit meine Schülerinnen
und jetzt unterrichte ich dort die Kinder (Montag von 2h–3h) bekomme für 1 Stunde $ 15
(15 dollar) um ½ 4h habe ich im Stuyvesanthouse Unterricht – muß mich furchtbar beei-
len – von 91. Straße bis zur 8. Straße – die Stunden gebe ich nur bis Schulschluß – Mitte
Juni – also 5–6 Stunden im ganzen – aber vielleicht werde ich im nächsten Jahr regulär en-
gagiert – wenn ich Erfolg habe – die Schule ist unglaublich elegant – ich muß mich immer
sehr schön anziehn – ich fahre mit Subway – von 8. Straße – Wanamaker Station – steige
bei der 14.
Straße in den Subway-Express um – der nur einmal hält (42 str. Central station)
steige 86.
Straße und Lexington Avenue aus – gehe über 5 Straßen gerade aus – 2 Avenues
rechts – ich habe den ganzen Weg Subway und alles allein gefunden – was bei Subway sehr
schwer ist – da sich oft geborene New Yorker verfahren“225
Diese Briefstelle gibt einen guten Einblick in Kliens beschleunigten New Yorker
Alltag. Über 80 Blocks in einer halben Stunde zurücklegen zu müssen, von der so-
zial ausgerichteten „Stuyvesant School“ in die noble „Spence School“ zu wechseln
– nicht nur topographische, auch soziale Flexibilität wurde der jungen Kunstpäda-
gogin abverlangt. Warum sie der Mutter in Wien-Purkersdorf eine derart detaillierte
Navigationsbeschreibung durch das New Yorker Subway-Netz schickte, ist nicht ein-
deutig zu beantworten. Anna Klien brauchte diese Wegbeschreibung sicher nicht,
vielmehr wirkt es, als wollte sich Klien selbst nochmals über den komplizierten Weg
vergewissern. Gleichzeitig konnte sie aber auch ihren Stolz ausdrücken, sich in der
Metropole bereits so kompetent zurechtzufinden (wo sich doch sogar „geborene
New Yorker“ oft verfahren) und damit auch der Mutter versichern, dass diese sich
keine Sorgen machen brauche.
Den Sommer 1930 verbrachte Erika Giovanna Klien auf Einladung des ameri-
kanischen Sozialreformers Frederic Howe auf der Insel Nantucket. In der Einsam-
224 Die heute noch bestehende „Spence School“ war damals eine private Mädchenschule, die 1892 von
Clara Spence gegründet worden war, seit 1929 befindet sie sich in der Upper East Side. Vgl. Richard
Schwartz, Spence School, in: Jackson (Hg.), Encyclopedia of New York City, 1102.
225 Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Anna Klien, Croton-on-Hudson 12.4.1930.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463