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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 267
weniger in der modernen Zivilisation als vielmehr im unterdrückten sexuellen Trieb
ortete.269
Der Neurastheniker – üblicherweise wurde er männlich gedacht270 – verfügte
grundsätzlich über keinen eindeutig beschreibbaren Typus. Ein Handbuch der Neu-
rasthenie von 1893 versuchte sich in einer Berufsstatistik der Betroffenen, wonach
vorwiegend Kopfarbeiter verschiedenster Branchen (Kaufleute, Beamte, Lehrer, Stu-
denten) von der neuen Nervenschwäche betroffen gewesen seien.271 Bis zur Jahr-
hundertwende sollte sich dieses Bild ändern – Radkau spricht von einer „Demokra-
tisierung“ der Neurasthenie –, zunehmend waren auch Arbeiterinnen und Arbeiter
von der Krankheit erfasst. Eine Entwicklung, die möglicherweise weniger mit der
tatsächlichen Betroffenheit als vielmehr mit der gesteigerten Wahrnehmung zu tun
hat.272 Fakt ist, dass die Diagnose der Neurasthenie immer weiter gefasste Bevölke-
rungsteile umfasste und als „Zeiterkrankung“ für die Betroffenen weniger Stigmati-
sierung mit sich brachte als andere psychiatrische Diagnosen. Letztlich hafteten der
Neurasthenie sogar durchaus positive Bewertungen an: Der Neurastheniker und die
Neurasthenikerin durften sich als Träger charakterlicher Zuschreibungen wie be-
sonderer Sensibilität und geschärfter Sinneswahrnehmung verstehen.
Damit stellt sich die Frage nach der Rolle der Neurasthenie in Künstlerkreisen,
denn es zeigt sich, dass zahlreiche Künstlerstereotype sich als hochgradig kompa-
tibel mit typologischen Merkmalen der Neurasthenie erweisen, wie eben beispiels-
weise die erhöhte Sensibilität. Daneben galten Neurastheniker in ihrer Unruhe auch
als durchaus produktiv. Sofern die Nervosität nicht zu stark und lähmend auftrat,
konnte sie bei KünstlerInnen auch kreativitätsanregend gedacht werden. Ganz in
269 Vgl. dazu die Ausführungen bei Peter Gay, Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler. Innenan-
sichten des 19.
Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2002, 171
f. Weitere Gegenmodelle zur Moderni-
tätsthese beschreibt auch Hans-Georg Hofer in Nervenschwäche und Krieg, 121
ff.
270 Zum Zusammenhang des Neurasthenie- und Geschlechterdiskurses um 1900 vgl. Hofer, Nerven-
schwäche und Krieg, 161 ff. Zweifellos wurde die Diagnose Neurasthenie auch bei Frauen gestellt,
die vor allem in Bezug auf die Modernitätsthese georteten auslösenden Faktoren seien aber in
männlichen Lebensläufen stärker virulent, so eine zeitgenössisch-medizinische Begründung für
ein angeblich stärkeres Auftreten bei Männern. Verwiesen werden kann in diesem Zusammenhang
auch noch darauf, inwieweit die Begrifflichkeit der Neurasthenie auch die für Männer „unzumut-
bare“ Diagnose einer weiblich assoziierten „Hysterie“ ersetzen konnte.
271 Vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, 215.
272 Eine soziale Differenzierung blieb zweifellos weiterhin bestehen: Neurasthenie galt generell eher als
„bürgerliches Phänomen“, dessen Betroffene in teuren Privatsanatorien verweilten. Der Ruf nach
öffentlichen Nervenheilanstalten wurde daher in den 1890er-Jahren immer lauter. Es ist davon
auszugehen, dass weniger begüterte PatientInnen mit neurasthenischen Beschwerden häufiger als
„geisteskrank“ in psychiatrischen Anstalten landeten. Vgl. dazu auch Radkau, Zeitalter der Nervo-
sität, 215 ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463