Seite - 281 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Bild der Seite - 281 -
Text der Seite - 281 -
3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert | 281
Mit seiner Auseinandersetzung mit Schriften der indischen Heilslehre war Ku-
bin somit auf der Höhe der Zeit. Wolfgang Martynkewicz hat zuletzt auf die hohe
Anziehungskraft der Vorstellung eines in sich ruhenden indischen Menschen im
Kontrast zum überreizten Europäer auf Künstler- und Intellektuellenkreise des frü-
hen 20.
Jahrhunderts verwiesen, wie sie beispielsweise der auch von Kubin rezipierte
Philosoph Rudolf Kassner in seinem Buch „Der indische Gedanke“ darlegte.320 Un-
trennbar mit dem Nervendiskurs jener Jahre verbunden und nicht unähnlich zu
gegenwärtigen Phänomenen, fokussierte die Suche nach einem Ausweg aus der neu-
rasthenischen Befindlichkeit auf östliche Heilslehren.
Bei Kubin führte die Auseinandersetzung mit dem Buddhismus allerdings zu-
nächst zu einer schweren persönlichen Krise. Diese ereignete sich 1915 und nimmt
in Kubins autobiographischer Darstellung eine zentrale Rolle ein, in der Kubin-Bio-
graphik wird sie als „buddhistische Krise“ bezeichnet. Wie bereits in der Analyse
von Kubins Autobiographie dargestellt, wurde die „buddhistische Krise“ von Kubin
selbst zu einer Art Lebenswende stilisiert. Nervlich aufgerüttelt durch den Tod des
Künstlerfreundes Franz Marc321 habe die Lektüre des Buchs von Georg Grimm über
das Leben Buddhas322 auf ihn einen so intensiven Einfluss gehabt, dass er sich völlig
von der irdischen Welt zurückziehen und in eine absolute, buddhistisch inspirierte
Versenkung begeben wollte. Kubin verabschiedete sich brieflich von seinen engsten
Freunden und zog in eine kleine Kammer des Hauses in Zwickledt, wo er am Boden
schlief und sich in Meditation und Atemübungen vertiefen wollte. Seinem Stiefsohn
Otto Gründler berichtete er darüber:
„Es war eine Krise hervorgerufen unter den furchtbaren Eindrücken welche mir der Krieg
und der Verlust einiger meiner liebsten Freunde und Collegen machte, […] so dass das
Grimm’sche Werk als es in meine Hände kam diese ganze ‚Wendung‘ auslösen musste.
Aber ich bin zu sehr abhängig mit meinem ganzen Wesen von dem was nach Ansicht die-
ser asiatischen Religionsphilosophie der Schein ist, denn ich bin doch auch Künstler bis in
mein letztes Gefühl hinein. – 10 Tage habe ich die allerstrengste Observanz eingehalten,
und viel innerlich geschaut, erlebt kontempliert dann ging es nicht mehr weil eben der
andere Teil meines Wesens sein Recht verlangte […] für uns abendländische Persönlich-
320 Rudolf Kassner, Der indische Gedanke, Leipzig 1913. Ausführlich dazu Martynkewicz, Das Zeital-
ter der Erschöpfung, 306.
321 Franz Marc (1880–1916), dt. Maler und Zeichner, Mitbegründer des „Blauen Reiter“ in München,
fiel 1916 bei Verdun.
322 Georg Grimm, Die Lehre des Buddha, die Religion der Vernunft, München 1915.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463