Seite - 282 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Bild der Seite - 282 -
Text der Seite - 282 -
| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse282
keiten ist es natürlich weit schwerer auf diese ausgebildete Persönlichkeit zu verzichten als
wie für die orientalische Massenseele, die anders beschaffen ist.“323
Die „Abhängigkeit vom Schein“, die ein wesentlicher Baustein seines künstlerischen
Wesens sei, habe ihn unter anderem an der völligen Hingabe zur buddhistischen
Lebensphilosophie gehindert. Das war es wohl auch, was Kubin schon Jahre zuvor
in dem eingangs zitierten Brief an Herzmanovsky-Orlando mit der Unvereinbarkeit
der buddhistischen Weltanschauung und einem „künstlerischen Dasein“ gemeint
hatte. Anders formuliert, Kubin brauchte, wie er vielerorts immer wieder darlegte,
seine nervösen Krisen und die aufwühlende Selbstsuche für seine künstlerische
Kreativität. Die Hingabe an buddhistische „Selbstauflösung“ hätte in seinem Ver-
ständnis ein Ende seines künstlerischen Schaffens bedeutet, etwas wozu er dezidiert
(noch) nicht bereit war. Damit war er nicht allein: Der zeitgenössische Indien- und
Buddhismusboom blieb zumeist einem theoretischen, philosophisch-spirituellen
Interesse verhaftet. Eine praktische Umsetzung, das heißt ein über Teilaspekte wie
den Vegetarismus hinausgehendes, religiös-buddhistisch geführtes Leben wurde
nur von einer Minderheit gewählt.324 Trotz der bewusst gehaltenen Distanz, die nach
der „buddhistischen Krise“ von 1915 eintrat, blieb das Interesse an der indischen
Kultur und Philosophie bestehen. An der Verbindung des „abendländischen“ und
„indischen“ Typus war Kubin auch weiter gelegen. 1935, also zwanzig Jahre nach der
„buddhistischen Krise“ schrieb er an Herzmanovsky-Orlando:
„H. Zimmer, der Indologe sandte mir vor kurzem sein neues Buch ‚Indische Sphären‘
betitelt, zum Teil blendend, ja großartig geschrieben – Ein Stück Inder liegt ja trotz allem
Abendländischen in uns, sonst könnten diese Dinge nicht immer so stark wirken –“325
Mit dem genannten Indologen Heinrich Zimmer stand Alfred Kubin in persönli-
chem und freundschaftlichem Kontakt. Zimmer war von 1926 bis zu seiner Emi-
gration 1939 Professor für Indologie an der Universität Heidelberg.326 Neben meh-
323 AK an Otto Gründler, 31.3.1916. Brief in Privatbesitz, zit. nach Geyer, Träumer auf Lebenszeit, 167.
324 Vgl. Baumann, „Importierte“ Religionen, 514 f.
325 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, 17.6.1935, zit. nach Herzmanovsky-Orlando, Briefwechsel,
91 f.
326 Heinrich Zimmer (1890–1943), ab 1926 Professor für Indologie an der Universität Heidelberg,
emigrierte 1939 (nach Aberkennung seiner Professur aufgrund seiner „nicht-arischen“ Ehefrau
Christiane, der Tochter Hugo von Hofmannsthals) nach Oxford und 1940 in die USA, wo er 1943
verstarb. Nach 1938 erschienen seine Bücher auf Deutsch in einem Schweizer Verlag. Zu Zimmers
Leben vgl. auch den biographischen Roman von Katharina Geiser, Vierfleck oder das Glück, Salz-
burg, Wien 2015.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463