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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus332
gesehen hat, hat er ein so stieres Gesicht gemacht, daß ich nicht begreife, warum es mir
so gut gehen soll.“63
Dies klingt nach sehr nüchterner, realistischer Beobachtung von Angst und Ver-
zweiflung betroffener Männer und Frauen und definitiv nicht nach heroischer,
euphorischer Überhöhung des Krieges, die sonst so oft in der Rhetorik jener Tage
anzutreffen war. Das im Brief vom Juli angesprochene Gefühl, sich selbst schlecht
zu fühlen, wenn andere, vor allem sozial Schlechtergestellte, in den Krieg müssen,
wiederholt er in mehreren Briefen. Auch am 30. August 1914 schrieb er ähnlich
argumentierend:
„Mein liebes Almi, [...] Ich kann nicht schlafen vor Kummer und Schande, daß es mir
besser gehen soll, und diese kleinen verhungerten und verwirrten Burschen und Männer,
die nichts bis jetzt wie Elend gehabt haben, werden da in den Tod getrieben oder werden
Krüppel, und niemand schert sich einen Pfifferling darum nachher. Da kommen so viele
arme Leute heraus, die jetzt schon blaß und krank sind, und die haben noch die seelische
Kraft, ihre Männer nicht merken zu lassen, wie es sie angeht. Heute ist eine Frau in meiner
Gasse wie eine Irrsinnige ihrem Mann um den Hals gefallen, der gerade weggehen mußte
mit seinen fünf Zwetschgen in einem Sacktuch.“64
Man könnte somit die Mitteilung Kokoschkas an Kurt Wolff vom September 1914,
wonach er sich freiwillig zum Heer stellen möchte, „weil es eine ewige Schande sein
wird, zu Hause gesessen zu haben“65 auch in diesem Kontext interpretieren und sie
nicht zwingend als kriegseuphorisch oder patriotisch werten. Einer solchen Inter-
pretation wollten offenbar auch Olda Kokoschka und Heinz Spielmann zuvorkom-
men, wenn sie als HerausgeberInnen der Briefe Kokoschkas dem betreffenden Brief
folgende Anmerkung hinzufügten: „eine für Außenstehende bestimmte, nicht wört-
lich zu verstehende Erklärung Kokoschkas, der sich sicher nicht aus patriotischen
Gründen zum Kriegsdienst meldete. Allerdings mag auch das Bedürfnis, sich vom
Leid anderer abzusetzen für seine Meldung zur Front eine Rolle gespielt haben.“66
Im Brief an Wolff ging es vorrangig um eine finanzielle Angelegenheit, auch das
ein nicht unwesentlicher Topos in Kokoschkas Vorbereitungen zur Meldung als
„Einjährig-Freiwilliger“: Eine solche schien für ihn erst möglich, wenn eine gewisse
63 OK an Alma Mahler, [Wien Ende Juli 1914], zit. nach Kokoschka, Briefe I, 172.
64 OK an Alma Mahler, [Wien], 30.8.1914, zit. nach Kokoschka, Briefe I, 179.
65 ZBZ, NL O. Kokoschka, Fasz. 36.20, OK an Kurt Wolff, o. D.; in der Edition der Briefe wird dieses
Schreiben plausibel mit Ende September 1914 datiert, vgl. Kokoschka, Briefe I, 183.
66 Kokoschka, Briefe I, Anmerkungen, 353.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463