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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus354
Jänner 1919 zwar ihr Ende, aber die aufgeladene politische Stimmung blieb. Anders
als im Entwurf der ersten Fassung erwähnte Kokoschka in seiner Autobiographie
nicht, dass seine Berufung an die Akademie auch dem Engagement des „Revolu-
tionären Studentenrates“ zu verdanken gewesen sei.144 Generell finden sich in der
ersten Fassung mehrere später gestrichene Passagen, in denen Kokoschka von seiner
Politisierung in der Dresdener Zeit spricht, die noch während seines Aufenthalts im
Sanatorium Teuscher in den letzten Kriegsjahren eingesetzt habe:
„Es war eine neue Art von politischem Interesse, das damals in Dresden in mir wachgeru-
fen wurde. In solchem Sinn hatten mich früher politische Fragen nicht gefesselt. Selbst in
den Krieg war ich eingetreten und sah ihn eher als eine Privataffäre, als Flucht vor einer
auswegslosen Situation; ich sah ihn gewissermaßen wie einen Riesenzirkus, bis ich die
Leichen sah […] Da begann in mir die Vorstellung von Verbrechen und Wahnsinn des
Geschehens aufzutauchen. Ich wurde, mit anderen Worten, in jenen ausgehenden Kriegs-
zeiten auf das Treiben der Gesellschaft aufmerksam und von meinen friedenspolitisch
eingestellten Freunden bestärkt in meinen Absichten, die Welt anders zu sehen […] Das
alles habe ich mit meinen Freunden […] besprochen und wir haben unter der allgemeinen
Entwicklung sehr gelitten und uns aufgeregt. Ich wurde politisch!“145
Gleichzeitig betonte er aber auch seine Gegnerschaft zu revolutionärer Radikalität
im Sinne einer organisierten Bewegung:
„Vor allem war ich prinzipiell gegen jede Art von Gleichschaltung. Deswegen habe ich
auch kein Interesse gehabt, in die neuen Schlagworte einzustimmen, an Demonstratio-
nen teilzunehmen oder auch nur Pamphleten oder Protesten meine Signatur zu geben,
weil mir das Reden und Schreien von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit und Men-
schenumarmung hohl, sinnlos, ja gefährlich erschienen war. Ich hatte mit den Literaten in
dieser Umbruchszeit keinen Kontakt, denn mir mißfiel die Tendenz, eine Vermassung zu
unterstützen. Ich war immer für das Individuelle, ich war ein prinzipieller Einzelgänger,
der mit seinen Problemen allein fertigwerden mußte.“146
144 Im Typoskript der ersten Fassung hingegen heißt es: „Ich war an der Dresdener Akademie ange-
stellt worden. Revolutionäre Studenten hatten in ihren Räten für mich als Lehrer plädiert, weil sie
sich von meinem Unterricht eine neue Lehrweise zum Sehenlernen erwarteten.“ Vgl. NL F. Witz,
Karton 81, Fasz. 81.10, fol. 10.
145 ZBZ, NL F. Witz, Karton 81, Fasz. 81.10, fol. 5.
146 ZBZ, NL F. Witz, Karton 81, Fasz. 81.10, fol. 8.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463